Das neue Nachrichtendienstgesetz bedroht die kritische Zivilgesellschaft.

1973 schrieb Franz Hohler in seinem apokalyptischen Stück «Weltuntergang»: Am Anfang wird auf einer ziemlich kleinen Insel — im südlichen Pazifik — ein Käfer verschwinden — ein unangenehmer und — alle werden sagen — Gott sei Dank ist dieser Käfer endlich weg — dieses widerliche Jucken, das er brachte — und er war immer voller Dreck.

Als Hohler seine kritischen Verse zwei Jahre später auf einer Solidaritätsveranstaltung für die Besetzung des AKW-Geländes Kaiseraugst vortrug, registrierte ihn der Staatsschutz als «Teilnehmer & Sänger des ‹Weltuntergangslieds›». Jahre später stellte sich heraus, dass rund 900 000 Fichen über mehr als 700 000 Personen und Organisationen angelegt worden waren.

Edward Snowdens Enthüllungen haben dokumentiert, wie weit die Überwachungs- und Spionagepraktiken seither gediehen sind. Die anfängliche Empörung über den NSA-Skandal hat sich inzwischen weitgehend gelegt, der Wind sich gedreht: Politiker fordern den Ausbau der nachrichtendienstlichen Tätigkeit auf das Niveau der eben noch kritisierten Staaten. Das Motiv hinter dieser Entwicklung, die an das Wettrüsten im Kalten Krieg erinnert, wird in der Politikwissenschaft als Sicherheitsdilemma beschrieben.

Doch mehr Datensammeln bringt nicht unbedingt mehr Sicherheit. Das Beispiel Frankreich zeigt, dass Anschläge sich auch mit ausgebauten Überwachungsmassnahmen nicht verhindern lassen. Die jüngsten Terroranschläge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es beim Ausbau der Geheimdienste längst nicht mehr nur um Massnahmen im Rahmen eines «Kriegs gegen den Terrorismus» geht. Seit dem NSA-Skandal ist erwiesen: Nachrichtendienste sind heute ein Werkzeug ausgedehnter politischer und wirtschaftlicher Spionage. Die Gesetze zielen stets auf einen Schutz von abstrakten «Landesinteressen », wobei diese zunehmend ökonomisch und nationalistisch definiert werden — oft auf Kosten demokratischer und rechtsstaatlicher Anliegen.

Schweizer Nachrichtendienstgesetz à la NSA

In der Herbstsession 2015 hat auch das Schweizer Parlament ein neues achrichtendienstgesetz (NDG) beschlossen. «Kein modernes, einer offenen freiheitlichen-rechtstaatlichen Demokratie angemessenes Staatsschutzgesetz», wie Rainer J. Schweizer, emeritierter HSG-Professor für öffentliches Recht, kritisiert, sondern ein «Gesetz im Sinne der US-amerikanischen Gesetzgebung für die NSA». Unterstützung bekam Schweizer aus Strassburg. Der Menschenrechtskommissar Nils Mui?nieks warnte in einem Schreiben an das Verteidigungsdepartement vor den vorgesehen Massnahmen; diese stellten eine «ernste Bedrohung für das Recht auf Respekt vor dem Privatleben» dar und könnten zu einem sozialen Klima führen, in dem «jeder Mensch als potenziell verdächtig gilt». Während das Parlament mit keinem Wort auf das Schreiben einging, betitelte Bundesrat Maurer Professor Schweizer als «Exoten».

Das neue Gesetz stattet den Nachrichtendienst mit umfassenden Kompetenzen aus, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären:

— Hacking und Trojaner: Das Eindringen in Computersysteme wird ermöglicht, inklusive des Einsatzes von Trojanern. Diese Kompetenz wird ausdrücklich auch für ausländische Systeme erteilt, etwa um den Zugang zu Informationen zu verhindern oder zu stören. Der grüne Nationalrat Balthasar Glättli bezeichnete dies passend als «Angriffskrieg im Internet». Eine solche Aktion würde ohne jeden Zweifel die Souveränität anderer Staaten verletzen und jede Kritik am Treiben fremder Geheimdienste in der Schweiz obsolet machen.

— Grossflächige Internetüberwachung: Unter dem harmlosen Titel der «Kabelüberwachung» erlaubt das Gesetz, den gesamten grenzüberschreitenden Datenverkehr systematisch zu überwachen und auf Schlagwörter zu durchsuchen. Es gibt berechtigte Gründe anzunehmen, dass künftig auch ausländische Dienste bei der Stichwortliste mitbestimmen werden. So wurde in Deutschland im Rahmen der NSAUntersuchung bekannt, dass der amerikanische Dienst dort rund 800 000 Schlagwörter einspeisen wollte.

— Omnipräsenz und Allmacht: Behörden und Private werden weitgehenden Auskunftspflichten gegenüber dem Nachrichtendienst unterstellt. Betreiber von Sicherheitsinfrastrukturen können ohne jede gerichtliche Genehmigung zur Herausgabe von (Video-)Aufzeichnungen gezwungen werden, Ähnliches gilt für private Internetanbieter. Damit wird jede und jeder zum verlängerten Arm des Staatsschutzes. Der Geheimdienst darf ausserdem die Telekommunikation überwachen, Ortungsgeräte einsetzen oder Räume verwanzen.

— Generalvollmacht für den Bundesrat: Einem brisanten Kernstück des Gesetzes wurde bis zuletzt kaum Aufmerksamkeit geschenkt. In Art. 3 wird dem Bundesrat die Vollmacht erteilt, den Nachrichtendienst mit all seinen Instrumenten im Falle einer Bedrohung auch ausserhalb des eigentlichen Gesetzeszwecks einzusetzen, etwa «zur Unterstützung der schweizerischen Aussenpolitik» oder «zum Schutz des Werk-, Wirtschafts- und Finanzplatzes Schweiz».

Zivilgesellschaft im Visier des Staatsschutzes

Die Befürchtung, dass auch die Zivilgesellschaft, Journalisten oder Aktivistinnen ins Visier des Nachrichtendienstes geraten, ist nicht unberechtigt. In der Vergangenheit wurde Greenpeace in den USA vom FBI bespitzelt, in Frankreich hat ein Energiekonzern einen Ex-Geheimdienstler beauftragt, in den Computer eines Kampagnenleiters einzudringen, und vor wenigen Jahren flog ein britischer Undercover-Polizist auf, der die Umweltszene in ganz Europa unterwanderte. Hohe Wellen warf 2013 ein Gerichtsurteil aus Lausanne, das eine unzulässige Infiltrierung der globalisierungskritischen Gruppe Attac durch die Securitas im Auftrag von Nestlé feststellte und beide Unternehmen zu Genugtuungszahlungen verurteilte.

Wo immer sich Engagierte mit denselben Themen befassen wie der Nachrichtendienst, besteht die reale Gefahr, dass ihr Datenverkehr erfasst und ausgewertet wird, dass friedliche Aktionen als Angriff auf die «kritische Infrastruktur» eingestuft und das Anprangern unfairer Geschäftspraktiken als Gefährdung des Wirtschaftsplatzes Schweiz betrachtet werden könnten.

Umweltaktivismus als Gefährdung von Landesinteressen

In Indien ist dieses Szenario Realität geworden. In einem Report des Inlandgeheimdienstes wird Greenpeace beschuldigt, mit ihren Kampagnen gegen AKW, Kohlewerke oder genmanipulierte Organismen den wirtschaftlichen Fortschritt des Landes zu schädigen. In der Folge sperrten die Behörden Spenden internationaler Geldgeber an Greenpeace Indien. Mitarbeitern von Greenpeace mit gültigen Visa wurde die Einreise verweigert. Eine Mitarbeiterin wurde am Ausreiseschalter aufgehalten und ihr Gepäck aus dem Flugzeug ausgeladen, als sie nach England reisen wollte, um vor Abgeordneten über die bedenklichen Auswirkungen britischer Firmenaktivitäten auf Waldgebiete in Indien zu sprechen.

Vergleichbare Repressalien sind aus der Schweiz bisher nicht bekannt. Dennoch ist Wachsamkeit geboten, denn der Staatsschutz ist der radikale Gegenspieler jeder intakten Demokratie.

Wo ein Staat seine Wirtschaft und seine Nationalstaatlichkeit mit autoritären Mitteln und Zwang schützen muss, indem er sich über seine Bevölkerung stellt und zum «Schutz von Landesinteressen» die Verfassung in Teilen aufgibt, betritt er das Feld einer Diktatur. Ein liberaldemokratischer Rechtsstaat, der nicht in einem schizophrenen Verhältnis zum Staatsschutz steht, ist krank. Mit dem kontinuierlichen Ausbau des Staatschutzes wird Vertrauen durch Misstrauen ersetzt und das Sicherheitsdilemma nicht gelöst, sondern verschärft. Franz Hohlers «Weltuntergang» endet übrigens so: Ich bin sicher — der Weltuntergang, meine Damen und Herren — hat — schon — begonnen.

Julia Heer war bis Dezember 2015 Legal Advisor bei Greenpeace Schweiz. Martin Husmann ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie der Universität Freiburg