«Das Interesse an der Ökologie ist keine Altersfrage», sagt der Politologe Simon Lanz. Statt auf scheinbar umweltbewusste Jungwähler zu schielen, sei es wichtiger, die eigene Klientel gezielt für den Gang zur Urne zu mobilisieren. Weil derzeit eher bürgerliche Themen die Gemüter bewegen, gelte es, Klimawandel und Atomausstieg wieder ins Gespräch zu bringen.

Greenpeace: Herr Lanz, Sie beschäftigen sich beruflich mit politischen Prozessen. Wollen Sie mit Ihren Einschätzungen auch inhaltlich etwas bewegen?

Lanz: Eine politische Agenda habe ich nicht. Aber es ist mir ein grosses Anliegen, dass die wissenschaftliche Forschung in die Praxis ausstrahlt. Deshalb habe ich schon als Student zusammen mit einer Kollegin einen Blog lanciert. Unser Ziel war, politische Ereignisse anhand von Erkenntnissen aus der Forschung zu verorten.

Öffentlich wahrgenommen wurde vor allem, dass Sie und Ihre Kollegen im Nachgang zur Masseneinwanderungsinitiative gewisse Zahlen anzweifelten. Damals hiess es von offizieller Seite, bloss 17 Prozent der unter 30-Jährigen hätten an der Abstimmung teilgenommen. Warum stellten Sie das in Frage?

Ich arbeite in Genf und bin deshalb mit den Eigenheiten des Kantons vertraut. Genf ist punkto Abstimmungen ein Unikum, weil die politische Partizipation nach sozio-demografischen Indikatoren ausgewiesen wird. Deshalb war ersichtlich, dass in Genf über 40 Prozent der Jungen an besagter Abstimmung teilgenommen hatten. Nach weiteren Abklärungen kamen wir zum Schluss, dass die Vox-Zahlen bei der Teilnahme der Jungen schweizweit zu tief lagen.

Ganz so stimmfaul sind die Jungen also nicht. Aber eine durchschnittliche Wahlbeteiligung von 30 Prozent bei besagter Abstimmung ist immer noch bescheiden. Ist den Jungen die Politik zu kompliziert geworden?

Eine solche Entwicklung lässt sich kaumbelegen. Wie die Zeitreihen aus Genf zeigen, liegt die Differenz der Stimmbeteiligung der Jungen zum Durchschnitt seit Ende der Neunzigerjahre stabil bei minus 20 Prozent.

Warum dieser Unterschied?

In der Wissenschaft wird dies oft mit der Lebenszyklus-These erklärt. Sie besagt, dass das Interesse an politischen Themen mit der beruflichen, sozialen und familiären Integration steigt. Beispielsweise gehen Verheiratete deutlich häufiger wählen als Singles.

Eine andere Erklärung für das Desinteresse könnte sein, dass den Jungen angesichts der vielen belanglosen Online-Votings in den sozialen Medien die handfeste Teilnahme an politischen Entscheiden zu mühsam ist.

Da bin ich gegenteiliger Meinung. Zentral für das politische Engagement ist das einschlägige Wissen. Wer sich nicht kompetent fühlt, geht oft nicht an die Urne. Die sozialen Medien sind eine Chance, Wissen weiterzugeben und so die Bevölkerung zu mobilisieren.

Also braucht es keine speziellen Massnahmen, um Junge für Wahlen und Abstimmungen zu motivieren?

Doch! Denn die Tatsache, dass Jugendliche weniger am politischen Geschehen teilnehmen als der Durchschnitt, ist unserer Demokratie abträglich. Ein wichtiger Hebel ist etwa die politische Bildung: Wäre Politik in der Schule häufiger ein Thema, stiege das Wissen der Jugendlichen — und damit ihre Partizipation an der Urne.

Seit einiger Zeit gibt es Instrumente, die mehr Objektivität in die persönliche Stimmabgabe bringen sollen. Helfen hier Tools wie Smartvote oder Ratings von NGOs weiter?

Smartvote ist ein cleveres Instrument — man erlebt oft Überraschungen, wenn Kandidatinnen und Kandidaten angezeigt werden, die ganz ähnlich denken wie man selbst, auf die man aber nicht gekommen wäre. Auf Ratings von Verbänden dürften vor allem Menschen reagieren, die sich ohnehin stark mit der Politik beschäftigen.

Wählen Junge anders als Alte?

Die Unterschiede sind geringer als oft vermutet. Ein Beispiel: Bei den 18- bis 24-Jährigen haben bei den Nationalratswahlen 2011 28 Prozent die SVP gewählt. Damit liegen die Jungen 2 Prozent über dem Durchschnitt. Jung gleich progressiv, das gilt hier also mitnichten.

Hat die Umwelt für die Jungen einen höheren Stellenwert als für Ältere?

Auch dafür gibt es keine Indizien. 2011 war die Umwelt für 12 Prozent der Wählenden das Topthema. Die bis 30-Jährigen favorisierten es zu 15 Prozent, also nur geringfügig stärker als der Durchschnitt. Betrachtet man die Gesamtbevölkerung, sind die Unterschiede sogar noch kleiner. Interessant ist, dass Umweltbewusste überproportional oft an die Urne gehen.

Grüne und Grünliberale geraten politisch immer mehr ins Hintertreffen, gleichzeitig legen Umweltorganisationen punkto Spenden und Mitgliedern zu. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Über den Aufschwung bei den Verbänden weiss ich zu wenig Bescheid. Es stimmt aber, dass die Landung der Grünen in den kantonalen Wahlgängen in Basel-Landschaft, Luzern und Zürich unsanft war. Die Krux ist, dass Fukushima vor vier Jahren für einen Höhenflug der grünen Themen gesorgt hat und die schon damals drohenden Verluste der Grünen in ein Plus verkehrte. Heute sind Themen wie die Frankenaufwertung und die Flüchtlingskrise in den Köpfen vieler Menschen präsenter als die Ökologie.

Also müssten grüne Parteien vermehrt auch aktuelle Themen aus den Bereichen Migration und Wirtschaft aufgreifen?

Wahltaktisch bringt das wenig. Denn wenn eine Partei die Themenführerschaft hat, kann die Konkurrenz diese Bastion kaum knacken. Etwas verkürzt kann man sagen: Wer Kompetenz im Bereich Wirtschaft will, wählt FDP. Sorgt man sich um die Migration, kommt die SVP in die Kränze. Umweltparteien sollten also dafür sorgen, dass die Umweltthemen wieder auf die Traktandenliste kommen — und gleichzeitig ihre Anhängerinnen und Anhänger mobilisieren.

Im internationalen Vergleich liegt die Wahlbeteiligung in der Schweiz notorisch tief — warum?

In der Schweiz spricht man oft von «Low Salience»-Wahlen: Die Wahlen haben hierzulande weniger Bedeutung als anderswo. Einer der Gründe ist, dass das Parlament zwar neue Gesetze beschliesst, dass man aber oft die Möglichkeit hat, später in einer Sachabstimmung nochmals darüber zu befinden. Man weiss also, dass das Parlament nicht das letzte Wort hat, sondern eben das Volk.

Die Schweiz ist — international gesehen — eine Insel der Glückseligen. Macht uns das selbstzufrieden und unpolitisch?

Nein. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Wohlstand die politische Partizipation hemmt. Im Gegenteil: Menschen mit hohem Einkommen nehmen häufiger an Abstimmungen und Wahlen teil als Personen mit einem geringen Einkommen.

In den Medien dominieren heute Themen wie der Krieg in Syrien und Irak, die Flüchtlingstragödie auf dem Mittelmeer, Griechenlands Schuldenkrise oder der Konflikt in der Ukraine. Wirkt die Beschäftigung mit eidgenössischer Politik da nicht etwas popelig?

Keineswegs. Auf viele dieser internationalen Konflikte muss die Schweizer Politik reagieren, etwa bezüglich der Migration. Auch die Schweizer Wirtschaftspolitik greift durchaus internationale Fragen auf — denken Sie etwa an die Konzernverantwortungsinitiative. Und dass Schweizer Waffenexporte eine internationale Dimension haben, leuchtet ohnehin ein.

Woran liegt es, dass Themen wie der Klimawandel mehr oder weniger vom Radar verschwunden sind?

In den Medien dominieren aktuell zwar internationale Hotspots, doch grüne Themen werden weniger vom Krieg in Syrien konkurrenziert als vom starken Franken oder von der Migrationsproblematik. Ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung erachtet die Migration als das Topthema — damit liegen wir europaweit an der Spitze. Für die Grünen bedeutet das, dass sie ihre Kernanliegen aktiv bewirtschaften müssen: die Umweltthemen. Da werden sie als kompetent angesehen.

Das klingt nach Lehrbuch. Aber die Energiewende wurde nicht durch politische Arbeit und Abstimmungen, sondern durch die Atomkatastrophe von Fukushima lanciert — eigentlich frustrierend …

Tatsache ist, dass die Schweiz eines der wenigen Länder ist, die nach Fukushima tatsächlich eine Wende eingeleitet haben. Entscheidend war, dass die CVP ihre Position zur Atomkraft revidierte und so dem Atomausstieg zu einer Mehrheit verhalf.

Der Anti-AKW-Kampf dauert nun schon Jahrzehnte. Ist das nicht zu gemächlich für einen radikalen und raschen Umbau, wie ihn die Umweltbewegung will?

Tatsächlich sind in der Schweiz mutige Schritte normalerweise nur sehr schwierig umzusetzen. Ein Grund sind unsere sehr konsensorientierten politischen Prozesse. Die Sitzverschiebungen im Parlament sind nach den Wahlen jeweils bescheiden und auch der Bundesrat ist auf Konsens bedacht. Ein zusätzlicher Dämpfer kommt von der direkten Demokratie, die manchen grossen Wurf redimensioniert. Für Verbände, die rasch etwas bewegen wollen, ist das natürlich ärgerlich. Gleichzeitig bietet gerade die direkte Demokratie auch eine Chance, weil zuweilen kleine Verbände grosse Erfolge erzielen können, in jüngster Zeit etwa mit der Zweitwohnungs- oder der Pädophileninitiative.

Feilschen wir zuweilen bis zum Stillstand?

Nicht zwingend, denn unser System umschifft durch dieses Aushandeln auch gewisse Leerläufe, wie ein Blick ins Ausland zeigt. So ist etwa ein präsidiales System wie in Frankreich mit grossen Unwägbarkeiten verbunden. Dort kann ein Präsidentenwechsel zum Beispiel die Sozial- oder die Umweltpolitik komplett über den Haufen werfen.

Simon Lanz, 1986, studierte an den Universitäten Zürich und Genf Politikwissenschaften. Aktuell arbeitet er im Departement für Politikwissenschaften und internationale Beziehungen an der Universität Genf und schreibt eine Dissertation über den Einfluss von Themenpräferenzen auf den Wahlentscheid. Lanz ist unter anderem Mitgründer des Blogs polithink.ch.