Der Sozialpsychologe Harald Welzer gehört zu den lautesten Wachstumskritikern im deutschsprachigen Raum. In «aufrührerischen Vorträgen» zieht er über Wachstums-Apologeten genauso her wie über Nachhaltigkeits-Heuchler – zuletzt im Rahmen der Umwelttage Basel. Eine Annäherung an einen streitbaren Vordenker.
Das mit einer Stadtgärtnerin, einem Architekten und einem Wirtschaftsvertreter besetzte Podium zur Eröffnung der Umwelttage Basel wollte nur langsam Fahrt aufnehmen. Doch dann, nach etwa einer Stunde, bricht der Hauptgast des Abends, der Sozialpsychologe Harald Welzer, das ungeschriebene, aber an den meisten Schweizer Podien gepflegte Gebot, Gesprächspartner nicht offen zu konfrontieren: «Ich bin ja auch heilfroh, dass wir in dieser Runde endlich einen Dissens gefunden haben», sagt Welzer und fährt fort: «Ich finde fast alles falsch, was sie soeben gesagt haben, Herr Saladin.» Franz Saladin, der Direktor der Handelskammer beider Basel, hatte dem Publikum soeben erklärt, weshalb der Wachstumsdrang zum Menschen gehöre, wie das Küken zum Ei. Saladin hätte wissen müssen, dass er mit seiner anthropologischen Verteidigung des Wachstumsdrangs nicht durchkommt. Vor dem Podium hatte Welzer nämlich über eine Stunde lang seine Kritik an Kapitalismus und unbegrenztem Wachstum erläutert. In Blue Jeans und grauem T-Shirt, mit viel Witz, in teils flapsiger Sprache, ironisch, leidenschaftlich und ohne Skript.
Welzer führte aus, weshalb ein Wirtschaftssystem, das auf Konsumismus beruht und seine eigenen Grundlagen auffrisst, per se nicht nachhaltig sein kann. Und weshalb ein solches System zu einer Gesellschaft voller objektiver Widersprüche führen müsse. Dem Widerspruch zum Beispiel, dass unser Ressourcenverbrauch seit der ersten kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung des «Club of Rome» mit den Grenzen des Wachstums von 1972 stärker gewachsen ist als je zuvor. Oder dass die CO2-Emissionen seit der Klimakonferenz in Rio von 1992 ständig neue Höchstwerte erreichen. «Wir haben nun zwar dieses super coole kritische Bewusstsein. Aber trotz all den tollen Nachhaltigkeits-Lehrstühlen, hunderten von Büchern, Konferenzen auf der ganzen Welt, mit Leuten wie mich, kommen wir bei der Klimaproblematik keinen Schritt voran», so Welzers Fazit. «Alle haben etwas davon, die Hoteliers, die Fluggesellschaften, die Geschäfte; nur das Klima nicht!»
Schlaefli: Herr Welzer, sie sind mit dem Flugzeug von Berlin nach Basel für die Umwelttage angereist. Wie gehen sie mit solchen eigenen Widersprüchen um?
Welzer: Ich bleibe besonders im beruflichen Bereich oft weit hinter meinen Ansprüchen zurück. Ich bin ein fehlbarer Mensch und stehe dazu. Im Fall von Basel war das Flugzeug wegen dem Bahnstreik die sicherste Option.
Schlaefli: Sie haben während ihrem Vortrag den Nachhaltigkeitsaktivismus kritisiert, der in der westlichen Welt zur «symbolischen Bearbeitung» des Klimaproblems herrscht. Gesellschaften entlasten sich durch Konferenzen, Institutionen und Lehrstühle, um weiterhin dem gewohnten Wachstumspfad folgen zu können. Gehören die Umwelttage in Basel, in dessen Rahmen sie aufgetreten sind, nicht genau in diese Kategorie?
Welzer: Ja und nein. Die Umwelttage hatten ja gerade dieses Jahr eine sehr praxisorientierte Perspektive, das unterscheidet sie von anderen Anlässen. Dort ging es um konkrete Initiativen, die Dinge auf den Weg bringen. Das unterscheidet sich schon von diesem Typ Konferenz, wo man entweder die neusten Katastrophennachrichten diskutiert oder darüber spricht, was man in Zukunft vielleicht mal tun sollte, könnte oder müsste. Die Umwelttage schienen mir hingegen wenig `konjunktivisch`, sondern eher konkret.
Welzer mag keine Absichtserklärungen und Zukunftsversprechen. Viel lieber sind ihm konkrete Geschichten; insbesondere Gegengeschichten zum Wachstumsmodell. Seit vier Jahren sammelt er solche und publiziert sie in periodischen Abständen im Zukunftsalmanach der Stiftung «futurzwei» aus Berlin. 2015 erschien der zweite Band; ein «Handbuch für eine enkeltaugliche Zukunft», wie er von den Autoren angepriesen wird. In den beiden bisher erschienenen Bänden werden mehr als 100 Geschichten erzählt, die exemplarisch für die Möglichkeit einer Welt jenseits von Konsum und Extraktivismus stehen. Eine solche Geschichte präsentierte er auf dem Podium. Unter dem Motto «Essbare Stadt» haben Initianten in der Stadt Andernach Obst, Gemüse und Blumen angepflanzt, die allen Bewohnern frei zum Pflücken zur Verfügung stehen. «Niemand hatte eine Vorstellung davon, was eine essbare Stadt sein könnte, bis der zuständige Dezernent das einfach ausprobiert hat. Und siehe da: Plötzlich finden es die Bürger super!» Gerade weil uns die Eliten immer von der Alternativlosigkeit des Status quo überzeugen wollten, so Welzer, brauche es Gegengeschichten und Alternativmodelle. Oder im Duktus des Sozialpsychologen: «Wir haben ja abgesehen vom Konsum wenig Identitätsressourcen. Mit Visionen wie der essbaren Stadt gelingt es uns neue zu schaffen.» Denn der gängige Nachhaltigkeitsdiskurs ist in den Augen Welzers lediglich eine Weiterführung der Geschichte vom Erfolg des Wachstumsmodells. Ein Hybridfahrzeug zum Beispiel ist zwar effizient, stellt die Grundverhältnisse aber nicht in Frage.
Schlaefli: Herr Welzer, bei all den gutgemeinten, von ihnen porträtierten Initiativen wie «urban gardening», «repair cafés» oder der «share economy» beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass es sich die Protagonisten in ihrer Blase so gemütlich gemacht haben, dass es für Systemkritik gar keinen Platz mehr hat. Teilen Sie diesen Eindruck?
Welzer: Kritik am Gesamtsystem hat ja nun bereits eine lange Tradition. Als Empiriker muss ich feststellen, dass sie das System bisher nicht gross verändert hat. Auch die Kritiker am Gesamtsystem haben ihre Nischen innerhalb der Gesellschaft, in denen sie es sich gerne gemütlich machen. Der Vorwurf gilt also genauso für diejenigen, die ihn erheben. Die Praktiker können wenigstens für sich ins Feld führen, dass sie tatsächlich neue Wege erproben.
Schlaefli: Gehören Sie selbst aber nicht genauso zur gerade kritisierten Kritikerzunft?
Welzer: Nun ja, ich versuche ja schon einen anderen Blick auf die Dinge zu werfen. Ich will es denen und dem Publikum nicht allzu einfach machen. Meine Kritik ist ja oft nicht sehr zustimmungsfähig und ich finde die reflexive Komponente extrem wichtig. Ich versuche auch an der Nachhaltigkeitsszene herauszuarbeiten, was an denen nun wiederum das Problem ist und was man anders machen muss. Da halte ich es mit dem Komiker Groucho Marx, und dessen Zitat, dass er niemals in einen Klub eintreten würde, bei dem er als Mitglied aufgenommen würde. Eine schöne Maxime.
Schlaefli: Neustens scheint ja sogar der Papst ihre Konsum- und Wachstumskritik zu teilen.
Welzer: Ja, ich würde den Papst auch gerne unterstützen. Der steht ja praktisch mit seiner Person für das was wir behaupten. Es ist verrückt; er nützt seinen begrenzten Handlungsspielraum politisch viel wirksamer als all seine Vorgänger.
Schlaefli: Wird er im nächsten Zukunftsalmanach erscheinen?
Welzer: Das ist eine gute Idee; das sollten wir machen.
Während des Podiums wird Welzer gefragt, ob das nicht alles ein wenig utopisch sei und er wirklich an die Veränderungskraft von kleinen, lokal begrenzten Initiativen wie urban gardening glaube. Welzer sitzt mit verschränkten Beinen da, hört aufmerksam zu, spitzt gelegentlich die Lippen und streicht sich genüsslich durchs Haar. Er ist ein Schnelldenker, trotzdem baut er Pausen ein; lässt die Frage einige Sekunden im Raum stehen, als würde sich durch die Lücke die falschen Annahmen, die der Frage zugrunde liegen, von selbst offenbaren. Schliesslich antwortet er: «Wieso stehen solche Initiativen immer gleich unter Rechtfertigungsdruck? Niemand wirft dem Vorstandschef von BMW vor, mit seinem neuen i3-Elektrofahrzeug nicht die Welt zu retten. Und nennen Sie mir eine andere Bewegung, die in den letzten Jahren so erfolgreich war wie urban gardening. Das sind längst nicht mehr kleine, marginale, sondern globale Bewegungen!»
Welzer ist kein Sozialromantiker, der dem Kommunismus nachhängt oder ein Ökofanatiker, der die Umwelt über das Wohl des Menschen stellt. Totalitarismen und Fanatismen sind ihm ein Graus. Er verteufelt denn auch nicht alles, was der Kapitalismus hervorgebracht hat. Ein System in dessen Zug die Lebenserwartung in nur einem Jahrhundert verdoppelt wurde, das zum niedrigsten Gewaltniveau in der Menschheitsgeschichte geführt hat, das zivilisatorische Errungenschaften wie Rechtsstaatlichkeit, öffentliche Bildung und Gesundheitssysteme hervorgebracht hat. Hinzu kommt: «Noch nie hatten wir mehr Handlungsspielräume; noch nie waren wir faktisch freier als heute!» Doch um diese Freiheit überhaupt wahrnehmen zu können bedarf es der Autonomie — und diese glaubt Welzer bedroht. Sein neues Buch, gemeinsam mit dem Philosophen Michael Pauen, ist eine 300-seitige Verteidigung der individuellen Autonomie. Die Autoren sehen sie gleich mehrfach bedroht, durch immer stärkere Konformitätszwänge und den Trend allumfänglicher Transparenz. Eine Sonderrolle nehmen dabei die sozialen Medien ein, die zu neuen Konformitätszwängen führen. Zum Beispiel über Phänomene wie Shitstorms.
Schlaefli: Herr Welzer, Sie raten in ihrem neusten Buch zur digitalen Askese. Aber was ist mit der sharing economy, die stark auf digitalen Medien basiert und die auch in ihrem Zukunftsalmanach viel Raum einnimmt?
Welzer: Wie bei jeder Technologie gibt es auch in diesem Fall zwei Seiten: Da gibt es die Tendenz Dinge sinnvoller zu nutzen, weniger Aufwand zu betreiben und weniger Ressourcen zu verschwenden. Aber gleichzeitig besteht in einer neoliberalen Ökonomie sofort auch die extrem starke Tendenz, Beziehungen und die soziale Praxis des Teilens zu monetarisieren. Das finde ich katastrophal.
Schlaefli: Wie meinen Sie das?
Welzer: Diese ganzen neuen Internet-Unternehmen instrumentalisieren ja eigentlich nur, was die Menschen sowieso tun. Und das verrückte dabei: Es entstehen dabei fast keine neuen Arbeitsplätze und es werden praktisch keine Steuern bezahlt. Da wird eine Gemeinwohl-orientierte Praxis zu Ungunsten des Gemeinwohls ausgebeutet. Trotzdem machen uns diese Unternehmen ständig vor, dass sie einzig an der Verbesserung der Welt interessiert sind und nicht am privaten Profit.
Schlaefli: Trotzdem, kein junger Mensch möchte heute noch auf facebook und Co. verzichten und wird dies wahrscheinlich auch nicht tun. Welche gesellschaftlichen Risiken sehen Sie darin als Sozialpsychologe?
Welzer: Das Verschwinden von Privatheit stellt eine extreme Gefährdung der Demokratie dar. Der private Raum zum Denken, zum Sprechen, zum nicht beachtet werden durch andere ist ein existenzieller Bestandteil von Demokratie. Sie braucht die Trennung zwischen privat und öffentlich. Deshalb ist Privatheit und deren Unverletzlichkeit auch ein Verfassungsgut — seit der ersten amerikanischen Verfassung.
Schlaefli: Und was passiert wenn diese Privatheit verschwindet?
Welzer: Alles wird durchschaubar und zugänglich. Dadurch verändern sich die sozialen Verkehrsformen: Leute veröffentlichen plötzlich Dinge über sich, anhand derer sie für die nächsten Jahrzehnte total angreifbar werden. Denn was ist, wenn sich die sozialen Normen in 30 Jahren geändert haben, aber trotzdem noch alles von damals auf dem Netz ist? Insofern ist die Gefährdung der Demokratie viel umfänglicher, als man das alleine mit Blick auf den Datenschutz sehen würde.
Zum Ende des eineinhalbstündigen Podiumsgesprächs landet Welzer — angeregt durch einen Zuhörer, der den Aspekt der Solidarität im Gespräch um Nachhaltigkeit vermisst hatte — schliesslich in der «Empörungsabteilung», wie er selbst sagt. «Sie haben recht. Wir staunen darüber, woher nun plötzlich all diese Migranten kommen. Das ist Bigotterie: Wir können nicht über Nachhaltigkeit sprechen, ohne nicht auch über den Welthandel, Ungleichheit und Migration zu sprechen.» Dass 86 Prozent der globalen Flüchtlingsströme heute von Entwicklungsländern aufgenommen werden — mehr noch als vor 20 Jahren — und die westlichen Nationen gleichzeitig über Flüchtlingsströme jammern, findet Welzer schlicht empörend.
Doch selbst für diese wenig ruhmreiche Realität hat Welzer eine Gegengeschichte zur Hand: Das Hotel «Magdas» in Wien wird von Flüchtlingen aus aller Welt geführt. Ausgestattet wurde es mit recycelten, auseinandergesägten Einbauschränken und ausgemustertem Bahnmobiliar. Soziale Nachhaltigkeit verbunden mit stofflicher Nachhaltigkeit — das ist ganz nach Welzers Gusto. Die Entstehung des «Magdas» wird im nächsten Zukunftsalmanach nachzulesen sein — sie ist nämlich derzeit Welzers Lieblingsgeschichte für eine enkeltaugliche Welt.
Dieser Artikel erschien zuvor in der Tageswoche vom 11.06.15.
Harald Welzers neustes Buch «Autonomie — eine Verteidigung» (gemeinsam mit Michel Pauen) ist soeben im Fischer Verlag erschienen.