Um die wachsende Weltbevölkerung ernähren zu können, ohne die Biosphäre zu zerstören, ist «Weiter wie bisher» keine Option. Die neue Kampagne von Greenpeace zeigt, dass es anders geht.
Die moderne Landwirtschaft ernährt Milliarden von Menschen und, nicht zu vergessen, ihre Nutztiere. Doch der Preis für die Errungenschaften der letzten Jahrzehnte ist gewaltig. Mindestens 40 Prozent der von Menschen gemachten Treibhausgase entstehen durch die Landwirtschaft. Bis zu 30 Prozent der Produktion werden verschwendet — bewusst vernichtet oder durch Unachtsamkeit verdorben —, während mehr als 800 Millionen Menschen jeden Tag hungrig zu Bett gehen. In unvorstellbarem Ausmass und Tempo werden seit Jahrzehnten Naturräume in Äcker verwandelt, Primärwälder abgeholzt, Meere leergefischt, Arten ausgerottet, Gewässer verunreinigt, fruchtbare Böden überdüngt, vergiftet, ausgelaugt, weggespült. Wächst die Nachfrage nach Agrarprodukten weiter wie im letzten halben Jahrhundert, müsste laut der Heinrich-Böll-Stiftung in den nächsten Jahrzehnten Ackerland von der Grösse Indiens bis Brasiliens neu erschlossen werden. Doch statt die so dringend benötigte, so kostbare Erde zu hegen und zu achten, jene oberen zehn Zentimeter, die Jahrtausende gebraucht haben, um zu entstehen und die in menschlichen Zeiträumen nicht mehr zu erneuern sind, vernichten wir jedes Jahr 24 Milliarden Tonnen davon — rund drei Mal die Fläche der Schweiz. Wird die Landnutzung weiter betrieben wie bisher, sieht die UN-Entwicklungsorganisation UNDP bereits in den nächsten fünf Jahren die Grenze einer ökologisch tragbaren Beanspruchung erreicht.
Doch der Widerstand gegen den Raubbau wächst. Ökologische und Fair-Trade-Produkte boomen, desgleichen Bauernmärkte, Bewegungen wie Urban Gardening, Food-Kooperativen, die gemeinschaftsbasierte Landwirtschaft oder die internationale bäuerliche Bewegung «La Via Campesina». Auch die Greenpeace-Kampagne «Food for Life» will das Bewusstsein für die Vorteile und die Möglichkeiten der ökologischen Landwirtschaft schärfen und sie vorantreiben.
«Im Zentrum unserer Vision stehen nicht Firmen, sondern die Menschen», sagt Reyes Tirado, Biologin und Autorin des Greenpeace-Reports «Ökologische Landwirtschaft», der die Grundlage der Kampagne bildet. «Wir wollen eine moderne, wissenschaftlich untermauerte Landwirtschaft, die die Biodiversität fördert.» Die Kampagne ist sehr praxisorientiert: Weltweit gesammelte Beispiele belegen, dass eine gut entwickelte nachhaltige Landwirtschaft schon heute gleich hohe, in manchen Fällen sogar bessere Erträge erzielt als konventionelle Betriebe, ohne freilich die Umwelt zu belasten. Dazu gehören ausgeklügelte Systeme der Mischkultur, der Fruchtfolge oder der Düngung wie zum Beispiel die Wasser-Reisfelder, in denen Enten und kleine Fische die Erträge deutlich erhöhen, oder das afrikanische Push-Pull-System.
«Dass es in Europa nicht mehr Ökolandbau gibt, liegt nicht an zu wenig Nachfrage, wie wir vor zehn Jahren noch angenommen haben», erzählt Urs Niggli, Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau FiBL. «Wir haben herausgefunden, dass die Umstellung bisher nicht genügend Anreize bietet.» Einerseits weil die Bioproduktion in Billiglohnländern so viel günstiger ist, dass Europa kaum mithalten kann — wobei, so Niggli, die Schweiz mit ihren Direktzahlungen für Bio, Tierwohl und anderen Ökologisierungsmassnahmen hier deutlich besser abschneidet als die EU: «Ohne Direktzahlungen geht es gar nicht.»
Vor allem aber gebe es im Vergleich zu den laufenden Verbesserungen in der konventionellen Landwirtschaft viel zu wenig Innovation im Ökolandbau. Da niemand Konzerne und bäuerliche (Gross-)Betriebe für die von ihnen verursachten Umweltfolgekosten zur Kasse bittet, erscheint es den meisten nach wie vor einträglicher und sicherer, auf Dünger, Pestizide, Unkrautvertilger und (wo erlaubt) Gentechnik zu setzen.
Die Ausgangsbedingungen sind alles andere als fair: Mehr als 95 Prozent aller landwirtschaftlichen Forschungsgelder und Investitionen gingen und gehen in die industrielle Landwirtschaft — eine Förderung multinationaler Konzerne und riesiger Agrarbetriebe, die Klein- und Biobauern jeden Handlungsspielraum nimmt.
«Das heutige Ernährungssystem ist ein kaputtes System», betont Reyes. «Um es zu reparieren, braucht es nicht nur Druck durch Konsumentinnen und Konsumenten, sondern auch ein gezieltes Gegensteuern durch die Politik, durch philanthropische Organisationen und andere Geldgeber.»
Greenpeace fordert, die Gelder für Forschung, Innovation und direkte Subventionen künftig in nachhaltige und ökologische landwirtschaftliche Lösungen umzuleiten: Lösungen, die letztlich auch sozial verträglicher sind. Denn 90 Prozent der bäuerlichen Betriebe auf der Welt — mehr als 60 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Landes —, sind kleiner als zwei Hektaren und werden von Frauen, Männern und Kindern bewirtschaftet, die nichts anderes haben als die harte Feldarbeit, um zu überleben.
Gerade ihr Einkommen und ihr Überleben könnte durch billige, simple Innovationen — verbesserte Anbau- und Bewässerungsmethoden ebenso wie dem Standort angepasste Arten oder neue Gerätschaften — entscheidend verbessert werden. «Überall auf der Welt wurden und werden solche kostengünstigen, wirkungsvollen Techniken und Praktiken entwickelt», weiss Reyes von ihren Forschungsreisen: «Aber es ist wichtig, die dann auch zu verbreiten. Vieles, was gut funktioniert, kennt noch niemand — oder die Geräte sind nicht erhältlich.»
Push-Pull: Ein holistisches System
Im kenianischen Nairobi entwickelte das Internationale Zentrum für Insektenphysiologie und -ökologie ICIPE in Zusammenarbeit mit Bauern und Bäuerinnen das Push-Pull-Verfahren: ein faszinierendes System der Ertragssteigerung, der Insekten- und der Unkrautbekämpfung, das simpel, billig und ökologisch ist — und beispielhaft auf die lokalen Verhältnisse zugeschnitten.
Der Maisanbau in Schwarzafrika leidet unter zwei Plagen: dem afrikanischen Stängelbohrer (einem beigen Falter, dessen Larven die Stiele der Maispflanzen durchlöchern und Ernteausfälle bis zu 80 Prozent verursachen) und dem Unkraut Striga, dem rosa blühenden «Hexenkraut», das den Maiswurzeln den Saft abzapft. Striga vermehrt sich auf ausgelaugten Böden explosionsartig; oft müssen befallene Felder aufgegeben werden.
Beim Push-Pull-System wird zwischen die Maisreihen ein bodendeckendes Bohnengewächs gepflanzt, dessen Duft den Stängelbohrer vertreibt (push). Und rund um die Maisfelder Elefantengras, das den Falter so magisch anzieht (pull), dass er seine Eier darin ablegt. Bohren sich die Insektenlarven nach dem Schlüpfen ins Elefantengras, sondert dieses einen klebrigen Saft ab, in dem sie zugrunde gehen.
Die Bohnen wiederum reichern nicht nur den Boden mit Stickstoff an, was den Mais besonders gut gedeihen lässt. Sie verhindern auch Erosion und Wasserverdunstung, und vor allem bringen sie die Striga-Samen zum Keimen, verhindern danach aber ihr Wachstum: Die Keime sterben ab. Binnen kurzer Zeit kann so das Unkraut gänzlich aus der Erde entfernt werden.
Zehntausende Familien in Kenia und Uganda konnten mit der Push-Pull-Methode ihre Erträge bis auf das Dreifache gegenüber chemischen Verfahren steigern. Durch den Verkauf von Elefantengras als Viehfutter bzw. besser genährte eigene Herden, die Milch und Fleisch geben, erwächst ihnen ausserdem ein Zusatzeinkommen.
Das von Greenpeace entwickelte Konzept einer modernen, tragfähigen Landwirtschaft, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, basiert auf sieben Prinzipien.
- Ernährungssouveränität: Wir müssen Produktionsketten fördern, die von Bäuerinnen und Bauern auf der einen sowie Konsumentinnen und Konsumenten auf der anderen Seite kontrolliert werden statt von Konzernen. Besonders zu würdigen und zu fördern ist hier die grosse Leistung der Frauen.
- Unterstützung bäuerlicher, ländlicher Gemeinschaften: Dem Grossteil der Subsistenzwirtschaftenden fehlt es an Rechten, Ressourcen und Wissen, am Zugang zu Märkten oder an Lagerungsmöglichkeiten für ihre Ernten. Die Vermittlung sicherer, gesunder, ökologisch und ökonomisch tragfähiger Lösungen bekämpft wirksam Armut und Hunger vor Ort. «Hier braucht es auch viel Bewusstsein der Konsumentinnen und Konsumenten», betont Reyes: «Es muss uns etwas bedeuten, dass die Menschen vor Ort nicht krank werden oder ihre Umwelt zerstören für Produkte, die wir am anderen Ende der Welt konsumieren.»
- Smarte Lebensmittelproduktion, bessere Erträge: Das derzeitige Mantra der Landwirtschaft lautet: Ertragssteigerung. Doch vielerorts braucht es nicht mehr, sondern weniger Produkte — dafür qualitativ bessere. Nachhaltigkeit bedeutet hierzulande weniger Verschwendung, einen geringeren Fleischkonsum und die Minimierung der Landnutzung für Bioenergie. In armen Ländern wiederum ist es immens wichtig, die Erträge zu erhöhen, wozu gezielte Forschung, Förderung und Verbreitung ökologischer Methoden einen Beitrag leisten sollen.
- Biodiversität «vom Saatgut bis zum Teller»: Es gilt, die Vielfalt in jeder Hinsicht zu erhalten und zu fördern. Sortenreichtum bedeutet Vielfalt in Geschmack, Nährstoffen, Esskulturen — all das erhält die Menschen gesünder.
- Bodengesundheit und sauberes Wasser: Ökologischer Landbau schützt die Böden nachweislich vor Erosion, Verschmutzung und Versauerung. Er macht sie fruchtbarer, die Kulturen widerstandsfähiger gegen Krankheiten und Trockenheit und er reguliert den Wasserhaushalt.
- Ökologische Unkraut- und Krankheitskontrolle ohne Chemikalien schützt Wasser, Böden und die Gesundheit. Im Bereich der ökologischen Krankheitskontrolle ist der Forschungsbedarf besonders hoch.
- Resilienz: Ökologische Landwirtschaft und die Förderung der Vielfalt machen Nahrungsmittel- und Landwirtschaftssysteme widerstandsfähiger gegen die Herausforderungen des Klimawandels und sich verändernder ökonomischer Verhältnisse.
Nächste Woche Freitag erfahren Sie in einem Interview mit Reyes Tirado, Biologin und Wissenschaftlerin am Greenpeace-Forschungslaboratorium der Universität Exeter in England, mehr über die Alternative und den Gewinn einer tragfähigen und modernen Landwirtschaft.
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