Sonnenstaat ist der zweite Name Brasiliens. Trotzdem kommt nur knapp ein Prozent des Stroms aus Photovoltaik. Vânia Stolze (55) aus Rio de Janeiro hat sich vor einigen Jahren zum Ziel gesetzt, dies mithilfe der Jugend in den Favelas zu ändern – und hat den Hebel offenbar am richtigen Ort angesetzt: Seit Kurzem können Brasilianer ihren Solarstrom ins Netz einspeisen.
Vânia sitzt auf dem grosszügigen Gemeinschaftsplatz der Genossenschaft Kalkbreite, den Rücken zur Sonne, dunkle Gläser vor ihren wachen Augen, und lacht, als ich versuche, mein Diktiergerät mit einem halbleeren Ersatzakku aufzuladen: «Du solltest einen Solarakku haben.» Und schon sind wir mitten in ihrem Thema, im Gespräch mit der vielleicht wichtigsten Solaraktivistin Brasiliens stellt sich schnell heraus, wie sehr ihre Leidenschaft sie fesselt — und sie gleichzeitig das grosse Ganze nie aus dem Blick verliert.
Aufgewachsen in einer brasilianischen Kleinstadt, wurde es ihr schnell zu eng, schon als Kind war sie vom urbanen Raum fasziniert. 10-jährig zog sie mit der Mutter, zwei Schwestern und einem Bruder nach Rio: «Hier gibt es mehr auszuprobieren, mehr verschiedene Einflüsse, mehr Kultur, mehr Leben, ich freute mich. Ich bin eine lebensfreudige Optimistin, rumsitzen ist nicht mein Ding, da entspreche ich ganz dem brasilianischen Klischee.»
Doch die Schattenseiten zogen schnell auf: In die Mittelschicht geboren, hatte sie eine solche Armut wie hier noch nie gesehen. Ganze Viertel, die Favelas, die auf sich selbst gestellt sind und sich nur mit dem Nötigsten einigermassen über Wasser halten können — das waren prägende Eindrücke: «Ich wollte unbedingt helfen.» Und so begann sie im Alter von 16 Jahren, sich um obdachlose Kinder und Jugendliche zu kümmern. «Wir waren eine lose, unabhängige Gruppe von Freunden, wir wollten den Leuten mit kleinen Dingen ermöglichen, sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen.» Also lernten sie mit ihnen, organisierten Geburtstage und andere Feste, bauten gemeinsam an einer positiveren Perspektive.
Die Frage trieb sie um, wie die Gesellschaft sich auf engem Raum einrichtet, wie das Zusammenleben — insbesondere in grossen Städten wie Rio — organisiert wird. Wenig erstaunlich, dass die Wahl des Studiums also auf Architektur fiel. Mit sozialem Engagement als erstem Nebenfach auf Lebenszeit.
Umweltbildung in den Favelas
Jahre später, 1992, hat Umweltschutz seinen Auftritt auf der grossen Bühne: Die internationale Staatengemeinschaft trifft sich nach 20 Jahren erstmals wieder, um Umweltfragen in einem weltweiten Kontext zu diskutieren, Klima ist plötzlich mehr als nur Wetter, Greenpeace kommt nach Brasilien. Am heute auch als Erdgipfel bekannten Treffen unterzeichnen 154 Staaten die sogenannte Klimarahmenkonvention. Der Startschuss für die noch heute stattfindenden, jährlichen Klimakonferenzen ist damit abgefeuert, der Klimawandel erstmals weltweit als Bedrohung auf die Agenda gesetzt, kein einflussreicher Politiker kann mehr behaupten, nichts davon zu wissen.
Vânia, mittlerweile 32, gut vernetzt in der Freiwilligen-Szene und Mutter von zwei Töchtern (4 und 2 Jahre jung), hat ihren Nachwuchs im Schlepptau: «Ich wollte meinen Töchtern auf den Weg geben, dass es wichtig ist, sich mit Menschen auszutauschen, sich einzumischen und aktiv an einer besseren Welt mitzubauen. Umwelt und Soziales ist untrennbar mit unserem Überleben verbunden.» Vânia unterrichtet unterdessen als Umweltlehrerin Jugendliche in den Favelas. Fehlende Infrastruktur — zum Beispiel das Fehlen einer Kehrichtentsorgung —, gepaart mit sozialen Problemen, aber auch mit Unwissen, resultiert in zugemüllten Armenvierteln. In einem Masse, dass der Abfall zu einer unmittelbaren Plage wird. «Keine einfache Aufgabe. Denn die Alltagsprobleme sind ganz anders gelagert. Also kombinierten wir Umweltbildung mit spielerischen Kunstinterventionen, wir produzierten aus Müll schöne und nützliche Dinge.»
In einem Pilotprojekt entsteht so die erste Warmwasser-Solaranlage aus gebrauchten PET-Flaschen: «Die demokratischste aller Energien ist solar. Die Sonne scheint jeden Tag, ob für reich oder arm.» Doch die Leute wissen nicht um ihr Potenzial, die brasilianische Regierung informiert die Bevölkerung bewusst nicht, denn sie verdient an undemokratischen Grossprojekten mit. «Nur deshalb ist Solarenergie in Brasilien heute immer noch so teuer. Doch wir können uns keine weiteren Belo-Monte-Staudämme mehr erlauben, der Widerstand ist zu gross, das Wasser zu knapp», ihre Gesten werden eindringlicher, Freudigkeit weicht der Besorgnis, das Klischee bröckelt.
85 Prozent des brasilianischen Stroms fliessen derzeit aus Grosswasserkraftwerken. Der gigantische Belo-Monte-Staudamm am Amazonas-Arm Rio Xingu geht voraussichtlich 2015 in Betrieb. Über 25 Jahre hatten indigene Völker und UmweltaktivstInnen mit internationaler Unterstützung — unter anderem von Prominenten wie dem Musiker Sting oder dem Hollywood-Regisseur James Cameron — dagegen gekämpft.
Bis zu 40’000 Menschen verdrängt der Riesenstausee und bedroht damit die Lebensgrundlage von Ureinwohnern aus 18 verschiedenen ethnischen Gruppen. Diverse ortsspezifische und unerforschte Fischarten werden diesen Eingriff langfristig nicht überleben. Auch Greenpeace Brasilien protestiert immer und immer wieder mit verschiedenen Mitteln gegen den Staudamm, ohne jedoch eine langfristige Alternative zu bieten, wie Vânia feststellt: «Solange die Leute meinen, es gäbe keinen Gegenentwurf, wie sollen sie sich dann für das Bessere entscheiden? Wenn sie nicht wissen, dass es eine demokratische Energieform gibt, mit der wir alle zu Mikroproduzenten werden können, wie soll dann der Wandel stattfinden?»
Die Überzeugung wächst in ihr, dass man die Dinge nicht nur selbst anpacken, sondern dass man sie gleichzeitig auf breitem Terrain bekannt machen muss. Sie überzeugt Greenpeace Brasilien, eine nationale Solar-Kampagne zu starten — bei der sie die Umsetzung gleich selbst in die Hand nimmt. Strom aus Photovoltaik kommt im Sonnenstaat Brasilien auf weniger als ein Prozent des gesamten Strommixes.
Bis kürzlich war es unmöglich, als kleiner Produzent seinen eigenen Strom ins Netz einzuspeisen: «Tag für Tag standen wir auf der Strasse, haben mit Solarküchen Pancakes und Popcorn gebrutzelt — Brazileiros lieben Popcorn — und mit den Menschen geredet, viel geredet, das ist das Wichtigste.» In der Zeit, um 2010, erfährt Vânia grosse Unterstützung vom Youth Support Centre in Bern, das für die internationale Solar-Kampagne von Greenpeace Solar-Aktivisten aus aller Welt mit Infomaterial, Kontakten und Schulungswerkzeugen versorgt: «Ohne die immense Erfahrung und die Hilfe aus der Schweiz hätten wir niemals so schnell loslegen können.»
Das Timing stimmt, auch andere Umwelt-Organisationen machen Druck auf die Regierung, und schon wenig später, 2012, verabschiedet die brasilianische Regierung ein Gesetz, das es erstmals ermöglicht, kleine, private Photovoltaikanlagen ans Stromnetz anzuhängen. «Jetzt müssen wir die Gelegenheit packen und bauen, was wir können», sagt Vânia und sorgt gleich selbst für ein prestigeträchtiges Projekt: Greenpeace-Freiwillige bauen mit Bewohnern die erste Photovoltaik-Anlage in einer Favela.
Liebe auf einem Greenpeace-Schiff kennengelernt
Von der Anlage in Morro dos Macacos profitiert die ganze Gemeinde, eingesparte Stromkosten kommen Gemeinschaftsprojekten zugute. Und das Wichtigste, so Vânia, sind die ausgebildeten Leute: «Wir haben zahlreiche junge Leute ausgebildet, sie werden meine Arbeit weiterführen und noch mehr Leute ausbilden. Denn die Sonne in Brasilien hat eine wahnsinnige Kraft, wir brauchen eine Bewegung, die sie nutzt.» Die Energie, die eine Solarzelle in der Produktion benötigt, kann im Sonnenstaat in nur einem Monat wieder eingefahren werden. Zum Vergleich: Mit Schweizer Sonneneinstrahlung dauert dasselbe auf dem aktuellen Stand der Technik bis zu zwei Jahre.
Nun ist Vânia also wieder einmal in der Schweiz. In Kandersteg wird sie an einem Jugendsolarprojekt mit Pfadfindern teilnehmen. Doch der wahre Grund für ihren Besuch ist ein romantischer: Vor drei Jahren bereiste Retze Koen, der Mitbegründer der Schweizer Jugendsolarprojekte, Brasilien. Bei einem Stopp auf dem Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior III, wo Vânia mit Verve für Solarenergie warb, nahm eine Liebesgeschichte ihren Anfang. Diesen Herbst geht Retze in Rente, und Vânia folgt dem ehemaligen Handelsschiffkapitän in seine Heimat — die Niederlande. Sich zur Ruhe setzen ist jedoch für beide keine Option: «Es ist für mich nicht einfach, Brasilien zu verlassen. Aber wenn die Liebe ruft, soll man ihr folgen», so Vânia. Ihre Zukunft wird sonnig sein, vermutlich werden sie sich als Coaches betätigen. Da lacht sie wieder: «Solar is best, forget the rest», sagt sie, legt endlich die dunklen Gläser ab und strahlt über beide Ohren.