Greenpeace: Andreas Weissen, Sie nehmen den Kampf für den Schutz der Alpen wieder auf. Was treibt Sie an?

Andreas Weissen: Das Berggebiet ist ein wunderschöner, aber hochsensibler Lebensraum. Wenn der zweite Gotthardtunnel kommt, geht der Alpenschutz flöten. das will ich verhindern.

Artikel 84 der Bundesverfassung verlangt, dass der Bund «das Alpengebiet vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs schützen» und die Belastungen auf ein Mass senken muss, «das für Menschen, Tiere und Pflanzen sowie ihre Lebensräume nicht schädlich ist». Hat er das getan?

Davon kann keine Rede sein. Statt der damals 5 Millionen Tonnen werden heute rund 15 Millionen Tonnen Güter über die Strasse durch die Schweiz gekarrt. Und nun will der Bundesrat die Kapazität des Gotthards mit dem Bau einer zweiten Röhre auch noch verdoppeln!

Der Bundesrat sagt, er wolle die zweite Röhre nur deshalb, um den fast 35-jährigen alten Tunnel sanieren zu können.

Das ist bloss ein Vorwand, um die zweite Röhre doch noch durchzuboxen. Nachdem das Volk 2004 den Avanti-Gegenvorschlag des Bundesrats bachab geschickt hat, der eine Lockerung des Alpenschutz-Artikels vorsah und den Bau einer zweiten Gotthard-Röhre ermöglicht hätte, versucht er es jetzt mit einer neuen Verpackung.

Also ein Schildbürgerstreich?

Ein fauler Trick. Bundesrätin Doris Leuthard sagt, es handle sich um ein Sanierungsprojekt wie jedes andere. In Tat und Wahrheit geht es um eine Verdoppelung der Infrastruktur. Damit wird der vom Volk beschlossene Alpenschutz plattgewalzt.

Wie soll man das Sanierungsproblem denn sonst lösen?

Mit der rollenden Landstrasse: Autos und Laster können kurzfristig auf die Bahn verladen werden. Mittelfristig sollten Güter über lange Distanzen sowieso in Containern auf der Schiene transportiert werden. Schliesslich haben wir 24 Milliarden Franken in die Neat und die neue Schieneninfrastruktur investiert, um die Güter auf die Bahn zu verlagern.

Die Verkehrsministerin beteuert, die Kapazität werde nicht erhöht, da die Tunnels nach der Eröffnung der zweiten Röhre im Jahr 2027 in beiden Richtungen nur einspurig befahren würden.

Frau Leuthard kann erzählen, was immer sie will. Sind einmal vier Spuren gebaut, werden auch vier Spuren genutzt. Auch Verkehrminister Hürlimann hat annnodazumal behauptet, der Gotthard werde nie zu einem Korridor für den Schwerverkehr. Die Bundesräte gehen und die Lastwagen kommen. Wenn man einen Tunnel mit zwei Spuren hat und einen zweiten Tunnel mit zwei Spuren baut, gibt das zusammen vier Spuren. Und damit eine Verdoppelung des Transportvolumens.

Sie glauben der Verkehrsministerin nicht?

Wenn die zweite Röhre mal da ist, greifen sich alle an den Kopf: Warum hat man hier eine zweite Röhre gebaut, die man nur zur Hälfte nutzt und vor der sich die Autos stauen? Verfassung und Gesetz sind dann schnell geändert mit der Folge, dass wir am Gotthard doppelt so viele Lastwagen haben wie heute. Am Brenner sind es 2 Millionen. Bei uns werden wir statt 1,3 Millionen wie heute ebenfalls rasch 2 Millionen haben. Dann wird die Strecke zwischen Basel und Chiasso zur Transithölle. Unfälle und Luftverschmutzung werden massiv zunehmen.

Wären zwei Tunnels nicht sicherer? Nach heutigen EU-Normen dürfen gar keine einspurigen Tunnels mehr gebaut werden.

Im Gegenteil. Die Unfallzahlen nähmen zu, weil mit verdoppelter Kapazität am Gotthard viel mehr Verkehr durch die Schweiz rollen würde. Zudem kostet die zweite Röhre 3 Milliarden Franken mehr als eine Sanierung mit der rollenden Landstrasse. Diese 3 Milliarden fehlen dann an anderen Orten, so dass dringendere Verkehrsprobleme in den Agglomerationen nicht gelöst werden können — auch Massnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit.

Nun staut sich der Verkehr am Gotthard aber regelmässig. Kann das so weitergehen?

Die wirklich grossen Verkehrsprobleme haben wir nicht am Gotthard mit den temporären Freizeitstaus, sondern jeden Morgen und Abend rund um die Städte. Ausserdem könnten am Gotthard die Container schon jetzt auf die Bahn verladen werden.

Warum soll ein Transpörtler auf die Bahn umsteigen?

Sie ist nach wie vor das ökologischste und sicherste Verkehrsmittel — und eigentlich auch das effizienteste. Aber weil die Bahn anständige Löhne zahlt, ist der Verlad eben teurer, als wenn man Lastwagenchauffeure aus Osteuropa mit Hungerlöhnen über die Alpen schickt.

Der Transportunternehmer und SVP-Nationalrat Ulrich Giezendanner behauptet, die Kapazität fehle, um alle Güter auf die Bahn zu verladen.

Die Kapazität ist da. Mit den neuen Neat-Basistunnels am Lötschberg und am Gotthard könnte man 30 Millionen Tonnen Güter mit der Bahn transportieren.

Als Lösung der Kapazitätsengpässe am Gotthard bringen Sie auch die Alptransitbörse ins Spiel, eine Art Reservationssystem.

Ja, beim Channel-Tunnel nach England funktioniert das ganz gut: Wer ein Ticket hat, kann mit der Bahn durch den Tunnel fahren. Auch im Alpenverkehr könnte ein Reservierungssystem eingeführt werden. Die Durchfahrtsrechte könnte man an einer Börse handeln. Je nach Nachfrage wäre der Preis höher oder tiefer.

Torpediert ein solches Slot-System nicht den freien Warenverkehr in der EU?

Das ist freier Warenverkehr, getaktet nach Massgabe der Stassenkapazität. Übrigens: den Bananen ist es egal, ob sie mit der Bahn transportiert werden oder mit einem Lastwagen. Güter können frei ausgetauscht werden, doch soll dazu über längere Distanzen das Verkehrsmittel benutzt werden, das Menschen, Tieren und Pflanzen am wenigsten schadet. Und das ist die Bahn.

Sind nicht viele Gütertransporte sowieso volkswirtschaftlicher Unsinn?

Natürlich! Ein Beispiel dafür ist das Mineralwasser, das von der einen Seite des Gotthards auf die andere transportiert wird. Noch krasser ist es im Montblanc-Tunnel, wo sich Camions mit San Pellegrino mit Camions kreuzen, die Evian transportieren; in einem Blindtest ist zwischen den beiden kaum ein Unterschied festzustellen.

Milch wird durch halb Europa gefahren, um zu Joghurt verarbeitet zu werden. Lebende Schweine werden in Tiertransportern von Belgien nach Italien gebracht; nach einem Monat kann man sie schlachten und das Fleisch als original Parmaschinken verkaufen.

Immerhin ist der Transport brandgefährlicher Güter durch Alpentunnels verboten …

… mit dem Ergebnis, dass 90 Prozent der Gefahrengüter über den 2000 Meter hohen Simplonpass gehen. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes brandgefährlich. Doch Bundesrätin Leuthard will von einer zwingenden Verlagerung von Gefahrengut auf die Schiene nichts wissen. So erwarten wir jeden Tag die grosse Umweltkatastrophe, wenn bei einem Lastwagen die Bremsen versagen.

Drum ab damit auf die Schiene?

Ja. Ob Bananen oder Gefahrengüter: der Schienentransport ist tausendmal sicherer als die Strasse.

Welche Sage möchten sie nach dem Abstimmungskampf gegen die zweite Röhre gerne erzählen können?

Dass wir dem Teufel zum dritten Mal ein Schnippchen schlagen konnten. Beim Bau der Schöllenen-Brücke haben die Urner den Teufel für seine Hilfe nicht mit einer Menschenseele belohnt, wie es ausgemacht war, sondern einen Geissbock über die Brücke gejagt. Doch der Teufel sann auf Rache und schickte Jahrhunderte später Kolonnen stinkender Laster durch den Gotthard. Mit der Alpeninitiative haben wir Schweizer Bürgerinnen und Bürger 1990 diesem teufelswerk einen Riegel geschoben. Nach der Abstimmung würde ich gerne erzählen können, dass wir mit dem Nein zur zweiten Strassenröhre das Land vor der Transithölle bewahrt haben.

Greenpeace Schweiz gehört neben rund 50 nationalen und regionalen Organisationen dem Verein «nein zur 2. Gotthardröhre» an und will den Bau der zweiten Röhre und die unnötige Belastung der Alpen mit einem Referendum verhindern. Der Widerstand gegen die Aushöhlung des Alpenschutzes ist enorm: 50’000 Unterschriften waren für das Referendum gegen eine zweiten Gotthardröhre nötig, 125’000 wurden in der ganzen Schweiz gesammelt und am 13. Januar in Bern bei der Bundeskanzlei eingereicht.

Der Walliser Alpenaktivist Andreas Weissen (57) leitet die Kampagne des Vereins «Nein zur 2. Gotthardröhre». Bekannt wurde er als Präsident und Campaigner der Alpen-Initiative (bis 2009) sowie als Leiter des WWF-Alpenprogramms (2001 bis 2005). Von 2007 bis 2009 war er Stiftungsrat von Greenpeace Schweiz. Weissen hat in Bern und Fribourg Journalistik, Pädagogik, Wirtschafts- und Sozialgeschichte studiert. Er erzählt gerne Sagen, liebt das Alphorn und das Bergwandern.

www.andreas-weissen.ch