Wenn es um politischen Wandel geht, hat der gewaltfreie zivile Widerstand mehr Erfolgschancen als der bewaffnete. Zu diesem Schluss sind die US-Wissenschaftlerinnen Erica Chenoweth und Maria J. Stephan 2011 in ihrem Buch «Why Civil Resistance Works» gekommen. Kürzlich haben sie ihre Forschungsarbeit um Betrachtungen zu den anhaltenden blutigen Auseinandersetzungen im arabischen Raum erweitert und festgestellt, die Skepsis gegenüber ihrer damals aufgestellten These sei verständlich, aber falsch.
In verschiedenen Beiträgen zum Thema gewaltfreier Widerstand schreiben die beiden Autorinnen, vordergründig mache es den Anschein, als ob sich im arabischen Raum die Hoffnungen zerschlagen hätten, dass «die Macht des Volkes» diktatorische Regimes erfolgreich herausfordern und durch neue, bessere Regierungssysteme ersetzen könne. Das anhaltende Blutbad in Syrien, die permanente Instabilität in Libyen, die blutige Konterrevolution in Ägypten, aber auch die gewaltsame Niederwerfung der Proteste in der Ukraine stimmten skeptisch, was die Aussichten gewaltfreien Widerstands gegenüber repressiven Regimes angehe. Diese Skepsis sei «angesichts der Ereignisse verständlich», schreiben die Autorinnen, «aber fehl am Platz».
Die beste Antwort auf Unterdrückung
Für Chenoweth und Stephan behält die 2011 aufgestellte historische Bilanz Gültigkeit, wonach ziviler Widerstand nach wie vor die beste Antwort auf Unterdrückung und die überlegene Strategie für sozialen und politischen Wandel sei. Denn die dramatischen Ereignisse der jüngsten Zeit belegten vor allem eines: dass Bewegungen, die auf Gewalt setzen, «oft schreckliche Zerstörungen und Blutbäder auslösen, ohne dass die angestrebten Ziele auch wirklich erreicht werden». Es sei eine längerfristige Betrachtungsweise nötig, um das tatsächliche Potenzial des gewaltfreien Widerstands zu bewerten.
In ihrer Forschungsarbeit hatten die beiden Amerikanerinnen historische Daten von 105 gewaltfreien und 218 bewaffneten Kampagenen des Widerstands zusammengetragen. Sie untersuchten alle weltweit bekannten Auseinandersetzungen für das Recht auf Selbstbestimmung, die Amtsenthebung politischer Führer oder die Vertreibung militärischer Besatzungsmächte zwischen 1900 und 2006. Dabei werteten sie Tausende von Quellen über Proteste und zivilen Ungehorsam aus, sichteten Expertenberichte und Umfragen sowie Aufzeichnungen über gewaltsame und gewaltfreie Aufstände, darunter Mahatma Gandhis Bewegung für die Unabhängigkeit Indiens von der britischen Kolonialherrschaft oder die Protestbewegung in Thailand, die zum Sturz von Regierungschef Thaksin Shinawatra führte. Chenoweth und Stephan kamen zum Schluss, dass der gewaltfreie Widerstand historisch öfter zur Entwicklung nachhaltiger Regierungssysteme und friedlicher Gesellschaften geführt habe. Die Erfolgsquote gewaltfreier Kampagnen sei doppelt so hoch gewesen und die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls in einen Bürgerkrieg deutlich kleiner. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Sezessionsbewegungen, also der Kampf um die Unabhängigkeit eines Landesteils. Dieses Ziel sei kaum je erreicht worden, weder mit gewaltloser noch mit kriegerischer Strategie.
Die Erfolgsfaktoren sind weltweit dieselben
Die Regel, wonach ziviler Widerstand mehr Erfolg verspreche, gelte selbst für Regimes, die auf brutale Unterdrückung setzten. Auch dort hätten Proteste, Boykotte, ziviler Ungehorsam und andere Formen gewaltfreier Aktionen dazu beigetragen, die Loyalität wichtiger Unterstützungsquellen gegenüber der Regierung zu untergraben und diese zu schwächen. Dies habe sich sogar in Ländern wie dem Iran, Burma oder den Philippinen gezeigt. «Entgegen der landläufigen Meinung haben keine sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Strukturen gewaltfreie Kampagnen systematisch daran gehindert, zu entstehen oder Erfolg zu haben», schreiben die Autorinnen. Von Streiks und Protesten über Sitins und Boykotte bleibe ziviler Widerstand angesichts von Unterdrückung «die beste Strategie für sozialen und politischen Wandel». Ein wichtiger Aspekt für den Erfolg einer Bewegung sei in jedem Fall die breite Unterstützung durch das Volk.
Obschon Tumult und Angst von Kairo bis Kiew bis heute anhielten, gebe es nach wie vor viele Gründe, über die Aussichten zivilen Widerstands in den kommenden Jahren vorsichtig optimistisch zu bleiben. Ziviler Widerstand habe vor allem deshalb Erfolg, weil die Wahrscheinlichkeit höher sei, dass er eine grössere und breiter gefächerte Basis von Teilnehmerinnen und Teilnehmern anziehen könne als der bewaffnete Kampf. Für ein Regime sei der zivile Ungehorsam bedrohlicher, weil er auf lange Zeit untragbare Kosten verursachen könne. Wirksame zivile Widerstandskampagnen hätten drei Dinge gemeinsam: eine massive Beteiligung des Volkes, eine flexible Taktik sowie das Potenzial, aus regimetreuen Exponenten Überläufer zu machen. Diese Erfolgsfaktoren seien weltweit dieselben. Chenoweth sagt, sie habe diesen Aspekt mit ihrer Partnerin intensiv in verschiedenen Teilen der Welt abgeklärt: «Es gibt keine Belege für systematische Unterschiede zwischen erfolgreichen zivilen Widerstandsbewegungen in der südlichen und der nördlichen Hemisphäre.»
Widerstand ist eine komplexe Konflikttechnik
Tatsache ist, dass die Menschen unter autoritären Regimes viel eher in den Bereich der Illegalität geraten als in Demokratien, wo Proteste legal sind. In Demokratien sind mit den Wahlprozessen ausserdem Sicherheitsventile eingebaut, über die sich die Unzufriedenheit eines Volkes entladen kann. Somit entwickelt sich weniger politischer Druck von unten als in Ländern mit autoritären Regimes. Der Nährboden für breitere Widerstandskampagnen ist dort besser.
Generell ist Chenoweth der Meinung, es gebe weltweit grosse Unterschiede in Bezug auf die Stärke und das Durchhaltevermögen von Zivilgesellschaften. Dass es heute global gesehen deutlich mehr zivilen Widerstand gebe als früher, bedeute aber nicht, dass die Zivilgesellschaft insgesamt stärker geworden sei. Ziviler Widerstand sei nach wie vor eine komplexe Konflikttechnik. Wer diesen Weg beschreite, habe grössere Chancen, nachhaltige Erfolge zu erzielen, als mit gewalttätigen Aktionen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg sei die Geduld: «Es dauert oft sehr lange, bis sich drängende Probleme lösen lassen.» Wer zum Mittel des zivilen Widerstands greife, müsse deshalb sicherstellen, «dass jenen, die diesen Weg verfolgen wollen, die Realitäten eines langen Kampfes für die Gerechtigkeit klar sind».
Erica Chenoweth ist Professorin an der University of Denver und Forscherin am Peace Research Institute of Oslo. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit politischer Gewalt und möglichen Alternativen. Maria J. Stephan ist Senior Partnerin des United States Insitute of Peace und Professorin an der American University. Sie hegt ein Interesse für zivilen Widerstand und demokratische Entwicklung. Zusammen haben sie das Buch «Civil Resistance Works» herausgegeben, wofür sie den Grawemeyer Award und den Woodrow Wilson Foundation Award erhalten haben.
Hier finden Sie Erica Chenoweths persönliche Website.