Im Juli 2013 kündigte der schwedische Energiekonzern Vattenfall an, er wolle seine Braunkohletagebaue und seine Kraftwerke in der ostdeutschen Lausitz abstossen. Anfang Dezember 2014 hat der Konzern nun dargelegt, dass die Lausitzer Kohleförderung trotz der Verkaufspläne ausgebaut und dafür unter anderem das Genehmigungsverfahren für eine Erweiterung des Tagebaus Welzow beantragt werde. Auch andere Stromriesen schlingern: Der Aktienkurs von RWE verharrt nach dem Einbruch von 2008 auf niedrigem Niveau, der Stromriese EON kündigt im Dezember 2014 seine Spaltung an und will die Produktionsstätten für Atom- und Kohlestrom unter seinem Namen loswerden. Ein Erfolg der Verbraucher, die sich mehr und mehr der alternativen Stromgewinnung zuwenden? Welche Krise auch immer die Energiekonzerne schüttelt, sie folgt der Logik des Marktes. Der EON-Schachzug riecht nach Etikettenschwindel, Vattenfall wird das Maximum aus den Lausitzer Braunkohleflözen herausholen – und sei es durch ihren Verkauf, und wie schon zu DDR-Zeiten werden ganze Dörfer und gewachsene Strukturen den Baggern weichen müssen.

Im Juni 2013 schaut Günter Spretz aus dem kleinen Fenster in das Licht des warmen Frühsommerabends, das Schattenspiele von den Blättern der Apfelbäume auf die gegenüberliegende Wand des Vierseitenhofs wirft. «Ach, die haben einfach gedacht, die paar Hanseln, die verkaufen wir», sagt er. Der Hof, auf dem der heute 68-jährige Spretz fast sein ganzes Leben verbracht hat, steht in der Niederlausitz im Land Brandenburg bei dem kleinen Dorf Rohne nahe der polnischen Grenze. Spretz wirkt müde. In wenigen Tagen wird sich entscheiden, ob er für sich und seine Familie — Frau, Tochter und die zweijährige Enkelin — wieder einen Platz finden wird, an dem sie bleiben können. Ihr Hof steht auf Gelände, das für den Tagebau freigegeben wurde: mitten im Lausitzer Braunkohlerevier, im einst zentralen Abbaugebiet der DDR.

«Bergbauschutzgebiet» hiessen damals die Flächen, deren Kohleflöze als Energiequellen für die staatlichen Kraftwerke vorgesehen waren. Wer hier lebte, wusste: Irgendwann kommen die Bagger, irgendwann muss ich gehen. Aber wer hier lebte, wusste auch: Kohle bedeutet Arbeit — in den Gruben und Halden, Brikettfabriken und Kraftwerken.

«Ach, die haben einfach gedacht: die paar Hanseln, die verkaufen wir.» Günter Spreetz mit Ehefrau und Enkelkind auf ihrem Grundstück sollen bald umgesiedelt werden. © Mark Mühlhaus/attenzione/Agentur Focus

Spretz hat als Ingenieur für Anlagenbau im Kraftwerk Boxberg gearbeitet. «Wer offen gegen die Kohle war», sagt auch Mathias Berndt, «der ging in den Bau. Das hat die Menschen geprägt. Viele erleben sich nach wie vor als wertlos gegenüber den von ihnen als mächtiger empfundenen Interessen.» Berndt ist evangelischer Pfarrer im Dörfchen Atterwasch, auf einer Sonderpfarrstelle für Bergbauseelsorge im Kirchenkreis Cottbus.

Das Bergbauschutzgebiet Lausitz heisst längst nicht mehr so, niemand geht mehr ins Gefängnis, wenn er etwas gegen den Tagebau hat, und vor allem: Die Braunkohle ist keine unersetzliche Energiequelle mehr. Ab 1989 wurden durch die Schliessung von 13 der 16 Gruben samt verarbeitenden Industriebetrieben grossflächig Arbeitsplätze abgebaut. Für die Menschen, deren Dörfer zur Abbaggerung vorgesehen gewesen waren, brachten die politische Wende und die Wiedervereinigung Hoffnung: Umweltgruppen sahen die Chance, die Zerstörung von grossen Naturschutzgebieten — wie des Urwalds Weisswasser oder des Eulower Bruchs — zu verhindern.

Das ehemalige Dorf Haidemühl im Jahr 2013 im Braunkohletagebaugebiet von Vattenfall. Verlassene Häuser säumen die Landstrasse. © Mark Mühlhaus/attenzione/Agentur Focus

Im Jahr 1993, kurz nachdem noch mehrere Lausitzer Orte gemäss alten DDR-Plänen «in die Grube gefahren» waren, versprach der damalige brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe: «Kein Dorf wird mehr abgerissen.» Stolpe, so sagen viele hier, wurde deshalb wiedergewählt. Doch die Bagger, die Dörfer und Landschaften verschlingen und Zehntausende Hektar verwüstete Erde hinter sich lassen, sind geblieben — und genauso die Konflikte zwischen Tagebau-Befürwortern und denen, die ihn als anachronistische Form der Energiegewinnung, als Umweltkatastrophe und als Zerstörung gewachsener Strukturen verurteilen. Schliesslich ist auch die Kohle noch da und verheisst dem schwedischen Energiekonzern Vattenfall, der nach der Wende die Abbaurechte erworben hat, erhebliche Einnahmen aus dem europaweiten Export ihrer Verstromung.

Ende Juli 2013 verkündete Vattenfall-Chef Øystein Løseth, der Konzern wolle sein kontinentaleuropäisches Kohlegeschäft «neu sortieren». Im Klartext: Vattenfall sucht Investoren oder Käufer für die fossilen Kraftwerke in Deutschland und Holland. Dabei hat auch Vattenfall bislang am Status quo festgehalten: Während sich, auch mittels staatlicher Förderprogramme für Solar- und Windkraft, mittelständische und kleine privatwirtschaftliche Unternehmen in die Stromgewinnung durch erneuerbare Energien eingekauft haben, versäumten es Vattenfall, EON, RWE und EnBW, notwendige Investitionen zu tätigen — zum Beispiel in Stromnetze für Wind- und Solarkraft.

Aber wo die Netzkapazitäten für eine alternative Energieversorgung nicht ausreichen, schwindet ihre Akzeptanz und der Schwung der Expansion. Das bedeutet wiederum Rückenwind für Betreiber und Befürworter von Grosskraftwerken — dabei schien der umfassende energiepolitische Wandel nach dem von Bundeskanzlerin Merkel verkündeten Einstieg in den Atomausstieg im Jahr 2011 nicht mehr weit. Das Bundesland Brandenburg erzeugt bereits im laufenden Jahr 70 Prozent seines Energiebedarfs mit regenerativen Energien und könnte sich ab 2020 bilanziell ganz mit Erneuerbaren versorgen. Laut der Brandenburger «Energiestrategie 2030» soll dieses Ziel zehn Jahre später umgesetzt werden.1 Es gibt eigentlich kein Stromerzeugungsproblem, sondern ein Speicherungs- und Bereitstellungsproblem.

Die Energiewende ist vor allem eins: ein wirtschaftspolitischer Interessenkonflikt. Dies wird im Hinblick auf den Braunkohletagebau besonders deutlich. Hier konkurrieren bei Debatten um seine Wirtschaftlichkeit sehr unterschiedliche Zahlenangaben miteinander. Ein Gutachter am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat im vorigen Jahr eine Braunkohle-Studie auf den Tisch gelegt, die für Unruhe gesorgt hat. «Es ist davon auszugehen, dass der Betrieb von Braunkohlekraftwerken in der Lausitz, und somit auch am Standort Boxberg, zu Beginn der 2040er Jahre aufgrund der hohen Einspeisung aus Erneuerbaren, der geringen Residuallast sowie tendenziell sinkender Grosshandelspreise unrentabel sein dürfte.»2 Gemeint sind die Braunkohlekraftwerke Boxberg (Tagebau Nochten II), Schwarze Pumpe (Welzow-Süd) und Jänschwalde.

Gutachten mit dieser Expertise sind in der Regel für zivilgesellschaftliche Initiativen nicht erschwinglich. Zwei Monate nach seinem Erscheinen liess das Brandenburger Wirtschaftsministerium eine «Energiewirtschaftliche Planrechtfertigung im Entwurf des Braunkohleplans» erstellen. Gutachter Erdmann, Dozent an der TU Berlin, rechtfertigt auf der Grundlage von «vertraulichen Unterlagen» der Firma Vattenfall den Neuaufschluss von Tagebauen mit den Schwankungen bei den Erneuerbaren, die durch Kohlekraftwerke ausgeglichen werden müssten. Die Ziele der Energiewende scheinen hier aus dem Blick geraten zu sein. Denn laut der von Vattenfall mit dem Land Brandenburg bekundeten Energiepartnerschaft und Vattenfalls Bekenntnis zur «Energiestrategie 2030» soll der CO2-Ausstoss Brandenburgs von derzeit jährlich etwa 60 Millionen auf 25 Millionen Tonnen im Jahr 2030 reduziert werden.3 Mit den Tagebauplänen läge der CO2-Ausstoss jedoch bei fast 30 Millionen Tonnen.

«Die Bagger kriechen den Menschen durch den Schlaf» Frau Wodtke und Frau Franz vor dem Tagebau Welzow engagieren sich gegen eine Erweiterung des Braunkohleabbaus in Welzow Süd © Mark Mühlhaus/attenzione/Agentur Focus

«3700 Menschen sollen in der Lausitz in den nächsten Jahren umgesiedelt werden», sagt Hannelore Wodtke, die sich in der 30 Kilometer vom Dorf Rohne und 70 Kilometer von Atterwasch entfernten Kleinstadt Welzow gegen das geplante Abbaugebiet Welzow-Süd engagiert. Seit knapp drei Jahren versucht hier die Mittfünfzigerin die vielfältigen Aktivitäten zu koordinieren, die für Alternativen zum scheinbar unumstösslichen Tagebau werben.

«Wir gehen überall hin, in die Gemeinden, nach Cottbus, jetzt auch nach Potsdam», sagt Hannelore Wodtke. «Wir kämpfen dort gegen Windmühlenflügel. Aber Umwelt- und Gesundheitsbelastung durch Feinstaub, Lärm und abgesenktes Grundwasser sind schon mit dem bestehenden Tagebau Welzow I über die Massen hoch, auch die psychosozialen Folgen sind offensichtlich. Den Menschen, die an der Tagebaukante wohnen, kriechen die Bagger durch den Schlaf, durch ihre Häuser gehen Risse, die bei unterirdischen Rutschungen entstehen. Durch das abgesenkte Grundwasser sterben die Bäume, der grobe Kohlestaub legt eine schmierige Schicht auf Dächer, Blätter und offene Flächen.»

Existenziell, so Wodtke, sei ihr Einsatz deshalb, weil viele Menschen noch immer dächten, sie könnten sich ohnehin nicht wehren. Zwar zahlt Vattenfall Entschädigungen an diejenigen, die mit einer Umsiedlung einverstanden seien, «Randbetroffene» aber, das heisst Menschen, die nicht unmittelbar umgesiedelt werden müssen, können keine Ansprüche geltend machen.

Hannelore Wodtke ist überzeugt, dass ein weiterer Tagebau katastrophale Folgen für die Region hätte. «Der Tagebau zerstört die regionale Wirtschaft mehr als dass er ihr nützt. Wir können längst nachweisen, dass wir mit regenerativen Energien Arbeitsplätze und auch energetische Unabhängigkeit schaffen können. Wir brauchen keinen neuen Tagebau.» Ihre freundliche Bestimmtheit hat der Lausitzerin während der vielen Anfeindungen geholfen, denen sie in den vergangenen Jahren als Hauptamtliche im Braunkohle-Widerstand ausgesetzt war.

Vattenfall, so Hannelore Wodtke, kämpfe durchaus mit harten Bandagen. Häufig würden einfach Tatsachen geschaffen. So werden im Gebiet um Welzow bereits Grundwasserabsenkungen durchgeführt und Dichtwände eingezogen, die Rutschungen verhindern sollen,4 wobei der Nutzen mehr als zweifelhaft ist. Dörfer werden umgesiedelt und eingeebnet,5 dabei ist das sogenannte Erörterungsverfahren, auf dessen Grundlage die politische Entscheidung zugunsten des Tagebaus fiel, so unsachgemäss durchgeführt worden, dass es im Frühjahr 2013 für ungültig erklärt wurde und wiederholt werden musste.

Teil 2 von «Über der Kohle wohnt der Mensch» folgt am 15. Dezember. Claudia Krieg ist freie Journalistin in Berlin. Der Text erschien zuerst im November 2013 in «Le Monde diplomatique».

1) Siehe unter «Energiestrategie 2030», das Programm zur Energiewende in Brandenburg

2) Christian von Hirschhausen, Pao-Yu Oei: Gutachten zur energiewirtschaftlichen Notwendigkeit zur Fortschreibung des Braunkohlenplans «Tagebau Nochten», im Auftrag der Klima-Allianz Deutschland, Berlin (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) 2013

3) Siehe Anmerkung 1.

4) Ralf E. Krupp, Zur Sicherheit des Erddammes zwischen Sedlitzer See und geplantem Braunkohletagebau Welzow-Süd II, Greenpeace-Gutachten 9/2013.

5) Bereits verwüstet wurde das Dorf Haidemühl, ebenfalls bedroht sind die Dörfer Proschim und Teile der Kleinstadt Welzow. Proschim gehört zum Siedlungsgebiet der sorbischen Minderheit, das die Verfassung Brandenburgs besonders schützt. Auch die als «randbetroffen» geltenden Ortschaften Bluno, Lieske und Neupetershain sind durch ihre unmittelbare Nähe zur Tagebaukante massiv von Rutschungen bedroht.