Wer in Städten und Agglomerationen zu Fuss unterwegs ist, belebt Sinne und Geist, hebt sich von der Masse ab und lebt eine Alternative zum Sport, die weder Industrie noch Transportmittel braucht. Der ökologische Fussabdruck ist somit äusserst klein.

Seit Jahrzehnten trichtert uns die Outdoor- und Tourismusindustrie ein, was echte Naturerlebnisse sind, wo diese stattfinden und wie man sich dafür am besten ausrüstet. Oft fahren oder fliegen wir Hunderte, wenn nicht Tausende von Kilometern, um — einmal am Hotspot angelangt — einen Bruchteil davon auf einem Treck oder einer Expedition zu Fuss zurückzulegen. Und meist wissen wir besser Bescheid über Himalaja, Anden oder die Rocky Mountains als über die eigene Stadt.

Städte dienen als Wirtschafts-, Wohn-, Kultur- und Verkehrszentren — und als solche nehmen wir sie gemeinhin auch wahr. Taucht das Bedürfnis nach Ruhe und Erholung auf, fahren wir aufs Land oder in die Berge, hängen am Skilift, klettern an Felsen hoch, radeln über Pässe, spazieren den See entlang oder wandern von Hütte zu Hütte. Dieses Stadt-Land-Schema hat sich in den Köpfen derart eingeprägt, dass es absurd klingt, wenn jemand von Wanderungen in städtischer Umgebung zu schwärmen beginnt. Da und dort sind freilich Zeichen erkennbar, die ein zaghaftes Umdenken andeuten. Für jede grössere Stadt in Deutschland etwa ist ein Wanderführer greifbar. Amsterdam wartet mit einer speziellen Wanderkarte auf. Die Stadt Wien preist auf ihrer Website 20 ausgeschilderte Wanderrouten an, zwei davon mit je 120 Kilometer Länge. Ein beachtliches Exempel statuierte vor zwei Jahren das Journalistentrio Jürg Frischknecht, Ursula Bauer und Marco Volken: «Wandern in der Stadt Zürich». Der opulente Band ist bereits in der dritten Auflage erhältlich. Da muss also was dran sein an diesem «Urban Walking».

Schnauze voll für 1 Euro

Was macht den Reiz des Stadtwanderns aus? Der deutsche Publizist Ulrich Grober umreisst es so: «Jeder Mensch ist ein Künstler, jede Wanderung, wenn nicht ein Kunstwerk, so doch eine bewusstseinserweiternde Aktion im Raum.» Als Grundvoraussetzung gilt es indes, die eigene Haltung dem Urbanen gegenüber zu klären. Damit Stadtwandern funktioniert, nehme ich bewusst eine neutrale Aussensicht ein. So wird es mir gelingen, all das Städtische in mich aufzunehmen, offen zu sein für alle Arten urbaner Erscheinungen. Strassenüberwerfungen, Kläranlagen, Industriequartiere, Parkanlagen, Unterführungen, Verkehrsinseln, Uferpromenaden, Lichtsignalanlagen, Werbeplakate, Schmuddelfassaden, Glasfronten und Lärm und Gestank und Vogelgezwitscher und Autos und Velos und Busse und ja: die Menschen! Der Gang durch Strassen und Gassen ist durch und durch von Müssigkeit geprägt. Nichts muss, alles kann. Dann ergeht es einem vielleicht wie Ulrich Grober, als er zu Fuss vom Ruhrtal kommend in die Stadt Düsseldorf eindringt: «14.05 Uhr. Der Wiedereintritt in die Stadtlandschaft ist von kleinen Schocks begleitet: Die rote Ampel an einer Querstrasse nehme ich erst in letzter Sekunde wahr. Die Reklametafeln, normalerweise wenig beachtet, wirken extrem aggressiv. Eine Fast-Food-Kette verspricht ‹Schnauze voll für 1 Euro›, ein Mobilfunkhersteller ‹Doping für die Sinne›. Tröstlich dann eine von Kindern (nicht ohne sozialpädagogische Anleitung) auf zig Metern bunt bemalte Bretterwand vor einem stillgelegten Fabrikgelände. Darauf der Spruch: ‹Wer den Himmel nicht in sich selber findet, sucht ihn im ganzen Universum umsonst.›»

Wer zu Fuss die urbane Zone erkundet, belebt Körper, Seele und Geist. Zudem wird er reich beschenkt. Sind die Sinnesorgane auf Empfang gestellt, betreiben wir bewusst oder unbewusst soziokulturelle Studien: Wie wohnt der Städter? Wie sehen seine Hauseingänge, Fenstersimse, Vorgärten, Hinterhöfe, Briefkästen und Velounterstände aus? Wie kommuniziert er? Graffiti, wilde Plakate mit Botschaften jeglicher Art: Anweisungen an Hundehalter, Steckbriefe gefundener oder verloren gegangener Katzen, eine dringend gesuchte Wohnung oder der Frust eines desillusionierten Hauswarts. Für den Appenzeller Wanderkolumnisten Thomas Widmer ist «die Stadt, zusammen mit ihrer Agglo, das eigentliche Faszinosum unserer Schweiz». Von einem «unvergleichlich grösseren Spektakel gegenüber dem Land» spricht Widmer und fügt an: «Für den Wanderer ist die Stadt eine Welt, die ihm immer neue Überraschungen schenkt: betrunkene Kinder zum Feierabend, koksende Mamis auf dem Spielplatz und Autofahrer kurz vor dem Durchdrehen schon frühmorgens. Viertel mit Hochhäusern, in deren Schatten Zigeuner fiedeln. Chalets, Bauernhöfe und weite Wälder, ja sogar den einen oder anderen Felsen gibts als Zugabe an fast jedem hiesigen Stadtrand gratis dazu.»

Die Ohnmacht des Fahrens

Das Wanderrevier liegt also gleich um die Ecke. Weshalb fahren, wenn man auch gehen kann? Schon Johann Gottfried Seume — er reiste zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu Fuss von Grimma bei Leipzig nach Syrakus und wieder zurück — bemerkte: «Gehen zeigt Stärke, fahren Ohnmacht.» Gründe genug, sich dem Mikrokosmos Stadt schreitend zu nähern. Die praktischen Vorteile liegen auf der Hand. Ausgangs- und Zielpunkt einer Wanderung sind frei wählbar. Dank der guten Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr kann ich alle paar hundert Meter spontan abbrechen. Dürstet mich, ist meist ein Restaurant nicht weit. Meldet sich der Magen, schaue ich im Quartierladen vorbei. Ich kann jederzeit stehenbleiben, mich umschauen, meinen Plan ändern, mich vom Wanderer zum Flaneur wandeln. Ich lasse mich treiben, aber nicht vertreiben, bin auch nicht der 08/15-Tourist, der stur nach Büchlein die Sehenswürdigkeiten abklappert. Stadtwandern ist weit entfernt von Sightseeing. Als Stadtwanderer bin ich autark unterwegs, ohne Druck und ohne Hast. Ich geniesse die Narrenfreiheit, die mir die Füsse bieten. Meine Neugier erlaubt mir eine anständige Frechheit, mich über dieses oder jenes zu amüsieren, meine Blicke kurz in fremde Gärten zu werfen, die Ohren für Momente dem streitenden Pärchen zu leihen und mit der Nase mal schnell eine Runde um den Dönerstand zu drehen. Dies alles obendrein ohne Spezialausrüstung, ohne Hightech und Outdoor-Schickimicki. Ein Paar robuste Schuhe, eine Jacke, ein Portemonnaie und fertig. Ökoverträglich bis an den Stadtrand und darüber hinaus. Eine temporäre Komfort-Askese, die man je nach Gusto mit einem Stadtplan oder einer 25’000er-Landkarte etwas luxuriöser gestaltet.

Die Stadt als Experimentierfeld

Die Möglichkeiten, sich wandernd im urbanen Raum zu verlustieren, sind fast unbegrenzt. Hierbei spielen räumliche und zeitliche Dimension eine Rolle. Es macht einen Unterschied, ob ich durch den Feierabendverkehr wusle oder in der Stille eines frühen Sonntagmorgens am Villenhügel umherschreite. Auf saisonale Aspekte ist überdies keine Rücksicht zu nehmen. Stadtwanderzeit ist immer!

Aus der Ferne betrachtet haben alle Städte etwas gemein: Sie wirken als offene Labyrinthe, ohne Anfang und ohne Ende. Dieser Umstand eröffnet dem Fussgänger zahlreiche Spielarten, die es auszuprobieren gilt. In einem ersten Experiment gehe man einmal von einem beliebigen Startpunkt los, vorerst nach links und bei der ersten Strassenkreuzung nach rechts bis zur nächsten Kreuzung, wo die Richtung erneut nach links geändert wird. Und so weiter und so fort. Dieses Links-Rechts-Schema bewirkt eine spannende Reise, deren Ausgang ungewiss ist und obendrein keinen Stadtplan erfordert. Ein zweites Experiment nennt sich Land-Stadt-Land. Losgewandert wird in einem ländlichen Vorort. Es folgt die komplette Durchquerung der Stadt mit ihren Aussenquartieren, der Innen- und Altstadt. Das Ende der Route plane man wiederum irgendwo im Umland. Dank der relativ bescheidenen Grösse unserer Städte ist dies in vier bis fünf Stunden gut zu bewerkstelligen. Die dabei gewonnenen Eindrücke werden die urbane Zone in einem neuen Licht erscheinen lassen. Diese besonders beeindruckende Erfahrung ist geprägt von der Wahrnehmung zahlreicher Gegensätze. Der feinfühlige Wanderer bemerkt zudem, dass es einen Unterschied macht, ob er zentrumwärts oder stadtauswärts geht. In einem dritten Versuch umrunde man die Stadt an ihrer Peripherie, also genau dort, wo das Wohn- oder Industrieviertel die Landwirtschaftszone küsst. Eine neue Sinneserfahrung, die bei grösseren Städten durchaus mehrere Tage dauern kann.

Raus aus der Stube — ein Fazit

In einer Zeit, wo jegliche Freizeitbeschäftigung ganze Industriezweige auf den Plan ruft, hebt sich das Wandern im städtischen Raum wohltuend ab. Es ist weder trendy noch sexy, dafür umweltverträglich und anspruchslos, da die gesamte Infrastruktur bereits besteht. In Zeiten des Fahrens und Sitzens sollte sich der Mensch vermehrt auf seinen Biomobilitätsmechanismus besinnen: das Gehen. Stadt und Agglomeration bieten die perfekte Spielwiese und eröffnen dem Fussgänger ungeahnte Freiheiten. Dem Trugschluss des Urstadtwanderers und Architekturkritikers Benedikt Loderer, wonach «der wahre Naturschützer der Stubenhocker» ist, muss im Fall des Stadtwanderns widersprochen werden. Oder mit den Worten Seumes: «Es würde alles besser gehen, wenn man mehr ginge.»

Die Probe aufs Exempel

Stadtwanderung in Basel
Basel hat nicht nur den Rhein, den Zoo und die Chemie. Basel glänzt auch mit einem Wasserturm, Dinosauriern und gar einer Alp. Die Rundwanderung führt vom Hauptbahnhof vorerst durch das Gundeldinger Quartier in den Süden, wo nahe der Erhebung namens «Batterie» ein lebensgrosser Dinosaurier und ein besteigbarer Wasserturm stehen. Unweit davon die Örtlichkeit «Auf der Alp», mit saftigen Matten und weidenden Kühen. Vorbei am Klosterfiechten, dem alternativen Straf- und Massnahmenvollzugszentrum des Kantons Basel-Stadt. In wenigen Schritten zurück in städtisches Ambiente, über das Gleisfeld des Hauptbahnhofs zur St.-Alban-Vorstadt und hinunter ins St.-Alban-Tal. Auf der gleichnamigen Fähre von Gross- nach Kleinbasel, durch Strassenfluchten mit orientalisch-balkaneskem Flair. Via die bei Schönwetter belebten Plätze der Claramatte und des Kasernenareals zurück an den Rhein, über die Mittlere Rheinbrücke ins Herz der Altstadt, zum Marktplatz, und von da dem Menschenstrom folgend wieder zurück zum Ausgangspunkt. Die reine Wanderzeit beträgt drei Stunden.