Bald ist es sechs Monate her, dass die KlimaSeniorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einen historischen Sieg errungen haben. Seither sorgt das Urteil nicht nur schweizweit für viele Diskussionen. Wir lassen es deshalb von der Rechtswissenschaftlerin Corina Heri einordnen.
Corina Heri, weshalb ist das Urteil im Fall der KlimaSeniorinnen historisch?
Das Urteil im Fall KlimaSeniorinnen macht klar, dass die Menschenrechte vor Gericht durchgesetzt werden können, um den Auswirkungen der Klimawandels zu begegnen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hält unmissverständlich fest, dass die Menschenrechte im Klimarecht eine Rolle spielen; d.h. dass Staaten die Menschen vor den schädlichen Auswirkungen des Klimawandels schützen müssen. Das ist ein historischer Entscheid, der die Weichen für die weitere Klimarechtsprechung auf nationaler und internationaler Ebene stellt. Dieses Urteil hat weltweite Aufmerksamkeit erlangt: Dieses Leiturteil wird in verschiedenen Ländern und Systemen die Praxis im Klimaschutz prägen.
Der Zusammenhang zwischen dem Schutz der Menschenrechte und des Klimas war lange umstritten. Argumentiert wurde, dass man die Reaktion auf den Klimawandel stattdessen über die internationalen Verhandlungen bezüglich dem Klimarahmenabkommen der Vereinten Nationen (im Rahmen dessen auch das Übereinkommen von Paris verabschiedet wurde) festlegen müsse. Unterdessen zeigt sich immer deutlicher, dass der Klimawandel verschiedenste Beeinträchtigungen der Menschenrechte verursacht, und dass diese teils heute schon stattfinden. Im Rahmen der sogenannten «Wende zu den Menschenrechten» haben sich im letzten Jahrzehnt immer mehr Organisationen und Einzelpersonen an die Gerichte gewandt, um die nationale Klimapolitik mittels menschenrechtlicher Argumente anzufechten. Im europäischen Zusammenhang berief man sich insbesondere auf zwei Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert sind: das Recht auf Leben und das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens (welches auch das Recht auf körperliche und geistige Integrität und den Schutz der Wohnung umfasst).
Der EGMR hat jetzt festgestellt, dass man den fortschreitenden Klimawandel nicht von den Menschenrechten trennen kann. Deshalb sind die Staaten dazu verpflichtet, ausreichende Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels zu ergreifen. Auf nationaler Ebene hatten diese Argumente schon früher teils zum Erfolg geführt. Ein Beispiel sind die Niederlande, wo eine Stiftung und fast 900 Einzelpersonen im Fall Urgenda schon 2015 erfolgreich die niederländische Klimapolitik angefochten haben. Auch in anderen Ländern hat diese Argumentation die Gerichte zu überzeugt. In der Schweiz war das anders: Hier hat man die Klage der KlimaSeniorinnen abgewiesen, und zwar mit einer so oberflächlichen Begründung, dass der Gerichtshof in Strassburg einstimmig eine Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht (Art. 6 EMRK) festgestellt hat. Das ist ein wichtiges Signal: Die nationalen Gerichte müssen Klimafälle ernst nehmen und sorgfältig prüfen.
Welche Folgen wird das Urteil weltweit für den Klimaschutz haben?
Zum ersten Mal hat jetzt ein internationales Gericht festgestellt, dass die nationale Klimapolitik eines Landes (hier der Schweiz) mit Bezug auf die Reduktion der Treibhausgasemissionen das internationale Recht verletzt. Mit dem Urteil im Fall KlimaSeniorinnen bestätigt der EGMR also die Auslegung der EMRK durch die nationalen Gerichte z.B. in den Niederlanden. Er schafft eine Grundlage für ähnliche Fälle in allen 46 Europaratsmitgliedstaaten. Es ist zu erwarten, dass der Ansatz des EGMR bald durch weitere internationale Gerichte bestätigt wird – insbesondere durch den Inter-Amerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in San José, Costa Rica, bei dem ein Gutachten zum Klimawandel verlangt wurde.
Was das Urteil konkret alles auslösen wird, müssen wir noch abwarten. Es zeigt sich aber jetzt schon, dass dieses Urteil zu vertiefteren Diskussionen und Auseinandersetzungen mit der Frage der staatlichen Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte vor den Auswirkungen des Klimawandels führen wird. Diese finden nicht nur in der Schweiz statt, sondern auch innerhalb der zuständigen Behörden in verschiedenen anderen Europaratsmitgliedstaaten.
Wie beurteilen Sie die Rolle der Gerichte generell bei der Verstärkung des weltweiten Klimaschutzes?
Die Frage ist meines Erachtens nicht, ob die Gerichte eingreifen können – die Frage ist, ab wann sie das tun können. Mit anderen Worten: Wann ist es klar genug, dass der Staat trotz Kenntnis der Risiken und Möglichkeit zur Handlung keine ausreichenden Massnahmen getroffen hat, um die Risiken für den Schutz von Menschenleben, Gesundheit, Wohnungen und Wohlbefinden abzuwenden? Dies sind letztendlich Güter, die nicht nur in den Menschenrechtsverträgen wie die EMRK, sondern auch in den Verfassungen vieler Staaten geschützt werden.
Es ist klar, dass die Gerichte im Alleingang keine bessere Klimapolitik auslösen können. Es braucht dafür mehr Zusammenarbeit, einerseits zwischen der nationalen und der internationalen Ebene und andererseits zwischen der Judikative und den anderen Staatsgewalten, also den Parlamenten (Legislative) und der vollziehenden Gewalt (Exekutive). Die Gerichte können dabei wichtige Impulse geben. Sie klären beispielsweise, wo Handlungsbedarf besteht, und sie legen bestehende Pflichten so aus, dass sie den Menschen auch im Zeitalter des Klimawandels adäquaten Schutz bieten.
Dass es immer mehr Klimafälle gibt, zeigt, dass die Klägerschaft in verschiedenen Teilen der Welt ihre Hoffnung auf die Gerichte setzt. Aus anthropologischen Studien weiss man, dass Klimaklagen vor Gericht gebracht werden, weil die Klägerschaft davon ausgeht, dass nur die Gerichte eine umfassende Auseinandersetzung der komplexen und lückenreichen Rechtslage bieten können. Verlangt wird eine Harmonisierung verschiedener Bereiche des Rechts – unter anderem des nationalen Klima- und Verfassungsrechts, des Menschenrechtsschutzes, und des weiteren internationalen Rechts, wie des Klimarahmenabkommens der Vereinten Nationen, aber auch des gewohnheitsrechtlichen Verbots grenzüberschreitender Umweltbeeinträchtigungen. Dieses fundamentale Prinzip im Umweltvölkerrecht wird, so die Erwartung, im Rahmen eines pendenten Gutachtens des Internationalen Gerichtshofs (IGH) der UNO in Kürze auf den Klimawandel angewendet werden.
Welche Hoffnung haben Sie bezüglich Klimaschutz?
Ich hoffe, dass man die Klimawissenschaftler:innen ernst nimmt, wenn sie uns sagen, dass wir vor einem Abgrund stehen. Diese Realität sollte zur Zusammenarbeit und zum Handeln anspornen, gerade weil man mit der Schaffung des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), dem sog. «Weltklimarat»), aussergewöhnlich überzeugende wissenschaftliche Grundlagen hat. Der IPCC produziert wissenschaftliche Erkenntnisse, die von den renommiertesten Klimawissenschaftler:innen der ganzen Welt überprüft werden. Die entsprechenden «Zusammenfassungen für politische Entscheidungsträger» (Summaries for Policymakers) werden Zeile für Zeile durch die Regierungen der 195 beteiligten Staaten gutgeheissen – das heisst, auch durch die Schweiz.
Ich hoffe auch, dass man die Gerichte ernst nimmt. Wie das Deutsche Bundesverfassungsgericht 2021 in seinem Klimabeschluss angemerkt hat, können die Gerichte uns vor den Folgen des politischen Kurzfristdenkens warnen. Sie schlagen mit ihren Urteilen Alarm. Sie zeigen uns, dass staatliches Handeln dringend geboten ist. Dabei lassen sie den nationalen Exekutiven und Legislativen bedeutende Freiräume bei der Wahl der Massnahmen, was sicherstellt, dass den nationalen Bedürfnissen und Möglichkeiten Rechnung getragen werden kann.
Schliesslich hoffe ich, dass man die richterliche Glaubwürdigkeit nicht aus politischen Gründen in Frage stellt. Kritik an richterlichen Entscheidungen muss möglich sein – aber dass man Richter:innen und ihre Urteile angreift, statt sich zu fragen, wie man eine lebbare Zukunft sicherstellen kann, kann weder der Rechtsstaatlichkeit noch dem Menschenrechtsschutz dienen. Im Rahmen der nationalrätlichen Diskussionen zum Thema KlimaSeniorinnen sind diesbezüglich am 12. Juni schwere Vorwürfe gefallen. Diese zielten auf die angebliche «Inkompetenz» des «Schweizer Personals» am Gerichtshof, die angebliche Einmischung von NGOs bei den Richterwahlen, und die Glaubwürdigkeit des neuen EGMR-Richters für Lichtenstein. Die Glaubwürdigkeit der Justiz auf diese Art in Frage zu stellen, ist verantwortungslos. Für den EGMR gilt: die Richter:innen werden durch die Staaten nominiert, was ihnen demokratische Legitimität verleiht. Aber sie sind Experten und fällen ihre Entscheide unabhängig von den Weisungen irgendwelcher Regierungen oder Organisationen. Gerade das macht den Gerichtshof zu einer so starken und bedeutenden Instanz. Diese Unabhängigkeit unqualifiziert in Frage zu stellen, weil man ein Urteil nicht billigt, ist eines demokratischen Staats nicht würdig.
Corina Heri promovierte 2017 an der Universität Zürich. Seit November 2020 ist sie Postdoc am Lehrstuhl Keller im Forschungsprojekt «Climate Rights and Remedies». Sie war am Gerichtshof in Strassburg dabei, als am 9. April das Urteil im Fall der KlimaSeniorinnen verkündet wurde.
Der Bundesrat sieht keine Notwendigkeit, dem Klima-Urteil des EGMR Folge zu leisten und hält an seiner Klimastrategie fest.