In Brasilien forstet ein Schwesternpaar die Mata Atlântica wieder auf, den stark dezimierten atlantischen Regenwald. Einst erstreckte er sich über eine riesige Region entlang der Atlantikküste, die von Nordostbrasilien bis nach Argentinien und Paraguay reichte. Im Lauf der Geschichte wurde er jedoch durch die Holzwirtschaft, den Zuckerrohranbau, die Viehhaltung und die Kaffeeproduktion immer kleiner.
Flávia Balderi blickt hinüber zum Nachbargrundstück: hügeliges Land ohne einen einzigen Baum, bewachsen von Capim, einem Gras, das für die Rinderzucht gepflanzt wird. Balderi, eine schlanke Frau von 40 Jahren mit langen dunklen Haaren, sportlich gekleidet in Polo-Shirt, Jeans und Trekking-Schuhen, sagt, dass man auch dieses Land übernehmen und renaturieren könne, wenn die Besitzer es wollten. Ökologisch gesehen sei Weideland nämlich ziemlich tot.
Den Unterschied sieht man auf Balderis Seite. Umstanden von Bäumen befindet sich hier im Hinterland des brasilianischen Bundesstaats São Paulo das Hauptquartier von Copaíba. Es ist die NGO, die Balderi vor 25 Jahren mit ihrer Schwester Ana Paula gegründet hat, die beiden waren damals noch Teenager. Ihre Idee: Bäume in der fast kahlen, von der Vieh- und Kaffeewirtschaft geprägten Region pflanzen. «Damals hielten uns viele für verrückt», erinnert sich Flávia Balderi. «Es widersprach der Denkweise der Bauern und Bäuerinnen. Wälder sind für sie unproduktiv.» Es ist die Mentalität, die auf dem Land in Brasilien bis heute vorherrscht.
Der kleine Bruder des Amazonaswald
Die Balderi-Schwestern forsten mit Copaiba die Mata Atlântica wieder auf, den stark dezimierten atlantischen Regenwald. Er ist in Europa weitaus weniger bekannt als beispielsweise der Amazonaswald, aber als Ökosystem ebenso wichtig. Einst erstreckte er sich über eine riesige Region entlang der Atlantikküste, die von Nordostbrasilien bis nach Argentinien und Paraguay reichte. Er war – nach dem Amazonaswald – das zweitgrößte Biotop Südamerikas. Im Lauf der Geschichte wurde er jedoch durch die Besiedlung der Küstenregionen stark dezimiert. Besonders die Holzwirtschaft, der Zuckerrohranbau, die Viehhaltung und die Kaffeeproduktion trugen zur Zerstörung bei, sodass heute in Brasilien nur noch rund 15 Prozent der ursprünglichen Waldfläche erhalten ist.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Mata Atlântica immer noch eins der artenreichsten Biotope der Welt geblieben ist, mit mehr als 200 teils großen Säugetierarten, Hunderten Vogelarten, Reptilien und Amphibien. Er bietet rund 20 000 Pflanzen eine Heimat.
Wurde die Zerstörung des Waldes über Jahrhunderte hinweg als notwendig für den wirtschaftlichen Fortschritt betrachtet, so hat in den vergangenen Jahren ein zartes Umdenken begonnen – auch im Brasilien Jair Bolsonaros, dem ultra-rechten Präsidenten, in dessen Amtszeit neue Rekordflächen abgeholzt wurden. Nicht nur der Amazonaswald hat unter ihm stark gelitten, sondern auch der Atlantikwald, wie neue Daten belegen. So wurden zwischen 2020 und 2021 fast 22 000 Hektar atlantischen Waldes abgeholzt, ein Anstieg um 66 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Diese Zerstörung hat einen enorm hohen Preis: Wassermangel!
72 Prozent der Brasilianer leben in oder rund um die Mata Atlântica, 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden hier erwirtschaftet. Die Bedingung dafür: Wasser sowohl für den privaten Verbrauch wie für die Industrie, die Landwirtschaft und die Energieerzeugung. Regnet es zu wenig, gehen in Brasilien wortwörtlich die Lichter aus. «2014 war so ein Jahr», erinnert sich Flávia Balderi. Monatelang regnete es zu wenig, und in den Küstenregionen musste der Wasserkonsum rationiert werden. In São Paulo drohte damals der Notstand, weil die Wasserreservoirs fast leer waren und den Hydrokraftwerken wegen sinkender Wasserspiegel der «Treibstoff» fehlte. Die Behörden befürchteten Unruhen.
Ein paar idealistische Teenager
Flávia und Ana Paulo Balderi waren weitsichtig, als sie 1999 in ihrem Heimatort, der Kleinstadt Socorro, Freunde zusammenriefen, um 100 Setzlinge entlang des Rio do Peixe zu pflanzen, einem Fluss, der immerzu schmutzig braun gewesen sei. Von den Fischen, die der Fluss im Namen trägt, sei jedenfalls nichts zu sehen gewesen, sagt Flávia Balderi. Der Grund: fehlende Bäume um die Ufer zu sichern. Bei Regen wurde deswegen immer mehr Erde von den kahlen Rinderweiden in den Strom gespült.
«Damals fragten sich viele, was wir da eigentlich machten. Die Region ist sehr konservativ», erinnert sich Flávia. «Wir waren ja nur ein kleiner Trupp idealistischer Teenager.» Heute, mehr als 20 Jahre später, hängen zahlreiche Preise und Urkunden im Büro von Copaíba, die sich nach dem brasilianischen Copaíba-Baum benannt hat. Die Schwestern haben es geschafft, ihre Region nachhaltig zu verändern. Dass die beiden Frauen sind, macht ihren Erfolg im Macho-Land Brasilien umso bemerkenswerter. «Am wichtigsten ist der Bewusstseinswandel, der durch uns in Gang gekommen ist», sagt Flávia Baderi.
Rund eine Million Setzlinge 130 verschiedener Baumarten hat die NGO bislang gepflanzt, die allermeisten in der Serra Mantiqueira, der Heimatregion der Balderi-Schwestern. Noch vor 100 Jahren war sie komplett kahl, weil hier Kaffee angebaut und Vieh gezüchtet wurde. Auch heute stoße man noch auf Ignoranz, sagt Flávia Balderi, die Copaíba derzeit alleine managt, weil ihre Schwester ein Kind bekommen hat. «Manchmal lassen Viehzüchter ihre Rinder einfach auf aufgeforstetem Land weiden.»
Rund 500 Hektar und mehr als 200 Ländereien haben die Schwestern Balderi, die heute 16 Angestellte beschäftigen, aufgeforstet. In den neuen Wäldern sprudelten wieder Hunderte Quellen, sagt Flávia Balderi. «Viele ältere Landbesitzer, die den Erfolg sehen, kommen nun zu uns, weil ihnen das Wasser ausgeht. Sie haben verstanden, dass die Abholzung zu versiegenden Quellen führt.» Finanziert wird die Arbeit von Copaíba über Spenden und Partnerschaften mit Unternehmen. Das Pflanzen und die Pflege eines Setzlings kostet umgerechnet vier Euro. Außerdem beteiligt sich Copaíba an öffentlichen Ausschreibungen.
Die Schwestern sind nicht alleine
Flávia Balderi führt über den Sitz von Copaíba auf einem Hügel in der kleinen Gemeinde Monte Alegre do Sul. Das Herzstück ist ein großes Gewächshaus, in dem Copaíba bis heute 3,5 Millionen Setzlinge hochgezogen hat. Auf rund der Hälfte des sechs Hektar großen Grundstücks wurde – natürlich – ein Wald gepflanzt. Er dient dazu, Schüler:innen die Natur nahe zu bringen. «Wir haben schon 30 000 Kinder und Jugendliche hier empfangen», sagt die für das Erziehungsprogramm zuständige Tatiana Terasin, eine ausgebildete Lehrerin. «Brasiliens Schulen sind furchtbar theoretisch und abstrakt», sagt sie, «bei uns kommen die Schüler:innen in Kontakt mit der Natur. Die Arbeit von Copaíba wäre ja für die Katz, wenn sie von zukünftigen Generationen nicht fortgeführt würde.»
So denkt auch Marcos Massukado. Der Anwalt aus São Paulo kaufte eine ehemalige Kaffee-Fazenda als Landsitz für sich und seine Familie und wandte sich an Copaíba. «Ich denke, dass der Planet Hilfe braucht! Es ist notwendig, zu handeln», schreibt Massukado per E-Mail, weil er am Tag des Besuchs in São Paulo ist. Von den rund 160 Hektar Land, die er besitzt, möchte er die Hälfte bewalden und auf dem Rest weiterhin Kaffee anbauen. Die Wiederaufforstung wird von Copaíba umgesetzt, finanziert wird sie von der Hamburger Firma Jungheinrich, die unter anderem Gabelstapler baut.
«Die Wiederaufforstung läuft in mehreren Phasen ab», erklärt Álvaro Guerreiro, einer der Wiederbewaldungsspezialisten von Copaíba. Zunächst werde der Boden aufbereitet, etwa das Weidegras entfernt und versucht, die Blattschneideameisen zu dezimieren, die junge Bäume in wenigen Stunden kahl fressen können. Dann suche man passende Baumarten und grabe kleine Löcher, die mit Hydrogel, einem Dünger, gefüllt würden, bevor der Setzling hineinkäme. Nach 30, 60 und 90 Tagen würde dann kontrolliert, wie sich die Pflanzen entwickelten.
Wandel in den Köpfen
Heute sind vier Mann des kleinen Unternehmens auf dem Grundstück, das von Copaíba mit dem Pflanzen beauftragt wurde. Maurilio Rodrigues hat früher mit Pferden und auf Kaffeeplantagen gearbeitet. Dann erkannte der 32-Jährige, dass in der Region nicht nur mit Landwirtschaft Geld zu verdienen ist. Sein Unternehmen hat er «Rodrigues Planeta Verde» genannt. Er sagt, «wir helfen dem Planeten». Drei Angestellte hat Murilio, sie stapfen gerade in Gummistiefeln über den aufzuforstenden Hang, entfernen da nachgewachsene Weidegras und düngen rund um die Setzlinge. Murilio und seine junge Firma sind ein Beispiel für den Wandel, den Copaíba in der Region bewirkt hat. Er findet nicht nur in der Natur statt, sondern auch in den Köpfen.
Allerdings zeigt das Beispiel von Marcos Massukado auch, dass es vor allem die neuen Landbesitzer:innen sind, die einen anderen Blick auf die Umwelt mitbringen. Dabei spielt auch der Tourismus eine wichtige Rolle, wenn beispielsweise alte Fazendas in Hotels umgewandelt werden. Tourist:innen wollen Bäume sehen, Vögel und andere Wildtiere und keine kahlen Hügel.
In dem pittoresken Örtchen Monte Alegre do Sul liegt die Kaffee-Fazenda von Luis Gonzaga aus dem 19. Jahrhundert. Wenn es etwas gibt, das der 64-jährige ehemalige Ingenieur über alles liebt, dann sind es Vögel. Und so hat der Enkel italienischer Einwanderer einen Teil seiner Fazenda mithilfe von Copaíba wiederbewaldet. Nun bietet er Vogelbeobachtungen an und es kommen Bird Watcher aus aller Welt zu ihm, weil sie hier seltene Eulen und 18 verschiedene Kolibriarten beobachten können, von denen drei nur in der Mata Atlântica vorkommen.
Aber nicht nur die Vögel sind dank der Wiederbewaldung zurückgekehrt. Gonzaga hat in einem Waldstück Kamerafallen angebracht und es sind ihm dabei schon seltene Mähnenwölfe, ein Puma und große Wildkatzen vor die Linse gelaufen. «Ich mache das alles aus Liebe zur Natur und zum Wasser», sagt Gonzaga. «Ich möchte, dass meine Kinder in einer intakten Umwelt Mata Atlântica und tue hier gemeinsam mit Copaíba meinen Teil dazu.»
Philipp Lichterbeck, Jahrgang 1972, lebt seit 2012 in Rio de Janeiro. Der freie Korrespondent und Reporter berichtet für deutsche, schweizerische und österreichische Medien über Brasilien und den Rest Lateinamerikas. 2013 erschien sein Buch «Das verlorene Paradies. Eine Reise durch Haiti und die Dominikanische Republik».
Ian Cheibub (geb. 1999) ist ein visueller Geschichtenerzähler, der in Rio de Janeiro lebt und an der Universidade Federal Fluminense studiert. Er arbeitet zudem als Fotograf für Reuters und berichtet für andere Medien über Geschichten in Brasilien. In seiner Arbeit versucht er zu verstehen, welche Mechanismen die Menschen aus dem Globalen Süden entwickeln, um zu überleben.