Die Liste mit zugelassenen Pflanzenschutzmitteln in der Schweiz ist lang. Doch wer bestimmt hierzulande, welche chemisch-synthetischen Stoffe zulässig sind? Wir haben im Vorfeld der Abstimmung vom 13. Juni einen Blick auf das Zulassungsverfahren von Pestiziden in der Schweiz geworfen und stellen fest: Es hapert an allen Ecken und Enden.
Das Zulassungsverfahren für Pflanzenschutzmittel in der Schweiz ist zweistufig aufgebaut. In einem ersten Schritt nimmt das Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF neue Wirkstoffe in die Pflanzenschutzmittelverordnung auf – ein gesetzgeberischer Akt, der nicht direkt anfechtbar ist, wohlgemerkt. Danach bewilligt das Bundesamt für Landwirtschaft BLW im Rahmen eines Prüfverfahrens Pestizide, die diese neuen Wirkstoffe enthalten. Und genau bei diesem Prüfverfahren kommen Mängel ans Licht, die so eigentlich nicht hinnehmbar sein dürften.
Zunächst einmal ist das Vorgehen bei der Überprüfung von Pestizidbewilligungen nicht mehr zeitgemäss. Das Verfahren geht auf die 1990er-Jahre zurück, damals wurde es für die junge Europäische Union entwickelt und die Schweiz hat es weitgehend einfach übernommen. Und obwohl die Wissenschaft in den im Prüfungsverfahren wichtigen Disziplinen wie Ökotoxikologie, Landwirtschaft und Medizin in den letzten 30 Jahren markante Fortschritte gemacht hat, ist die Vorgehensweise bis dato konzeptionell nie wesentlich verbessert worden. Dies kam 2019 auch in einem Bericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG zum Vorschein.
Im Frühling 2018 entschied das Bundesgericht immerhin, dass Umweltverbände gegen die Bewilligung von Pestiziden Beschwerden erheben können. Zudem werden seit 2019 geplante Bewilligungen oder die Überprüfung von Bewilligungen vom BLW im Bundesblatt publiziert. Auch hierzu können Verbände wie Greenpeace Schweiz Akteneinsicht verlangen, Stellungnahmen an das BLW einreichen und erteilte Bewilligungen anfechten.
Ein gefährlicher Interessenkonflikt
Viel brenzliger aber als das veraltete Prüfverfahren ist der Interessenkonflikt des Bundesamts für Landwirtschaft. Wie bereits erwähnt, ist das BLW federführend in der Bewilligung von Pestiziden in der Schweiz. Gleichzeitig ist es aber auch für die Förderung der landwirtschaftlichen Produktion zuständig. Ein grober Interessenkonflikt, wenn man davon ausgeht, dass für eine höhere Produktion mehr und vor allem giftigere Pestizide benötigt werden.
Hinzu kommt, dass das BLW auch über die Überprüfung und gegebenenfalls das Verbot von bereits bewilligten Pflanzenschutzmitteln entscheidet. Sofern es bei der Neubeurteilung von bewilligten Pestiziden um Umweltanliegen geht, werden die Entscheide fachlich aufbereitet durch Agroscope – eine Bundesanstalt, die auch unter der Leitung des BLW steht. Eine unabhängige Beurteilung von bewilligten Pestiziden ist also nicht gegeben. Summa summarum: Mit der Organisation des ganzen Prüfverfahrens von Pestizidbewilligungen hat der Gesetzgeber wahrlich den Bock zum Gärtner gemacht.
Immerhin hat der Bundesrat vor einigen Wochen erkannt, dass dieser Zustand nicht länger tragbar ist und geändert werden muss. Ab 2022 soll daher für die Pestizidbewilligung nicht mehr das Bundesamt für Landwirtschaft, sondern dasjenige für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen zuständig sein. Zusätzlich wird die Rolle des Bundesamts für Umwelt gestärkt, die bisher nur marginal war: Das BAFU durfte lediglich darüber bestimmen, welche Warnhinweise auf der Etikette eines Pestizids stehen.
Mangelhafte Prüfungskriterien
Als wäre der Interessenkonflikt rund um die Bewilligungsprüfung von Pestiziden in der Schweiz nicht gefährlich genug, ist auch das Prüfungsverfahren selbst von Mängeln nur so durchlöchert. Beispielsweise werden alle toxikologischen Daten eines Pestizids von den Gesuchstellern der Bewilligung – namentlich der Agrochemie – aufbereitet. Dass diese wenig Interesse an kritischen Studien zu Inhaltsstoffen haben, dürfte kein Geheimnis sein. Aber weder die Behörden der EU noch der Schweiz überprüfen die eingereichten Daten mit eigenen oder erweiterten Toxizitätstests und Feldstudien. Sollten wider Erwarten doch zusätzliche Toxizitätstests durchgeführt werden, dann nur in künstlichen Systemen im Labor mit wenigen Tierarten. Von diesen wird dann lediglich auf andere Arten geschlossen, obwohl verschiedene Tiere ganz unterschiedlich empfindlich auf Umweltgifte reagieren.
Auch wichtige Umweltbereiche wie die Giftwirkung auf Fledermäuse, Wasserpilze oder Amphibien werden gar nicht geprüft. Bei Amphibien etwa behaupten die Behörden, es könne mit der Beurteilung für Fische verglichen werden. Das ist schon falsch, weil Amphibien auch im Kulturland leben und daher Pestiziden stärker ausgesetzt sind als Fische im Wasser. Ebenso müssen die langfristigen Auswirkungen der Gifte im Ökosystem nicht geprüft werden. Die meisten Tests dieser Art dauern nur wenige Wochen. Hinzu kommt, dass viele Pflanzenschutzmittel mehrere Wirkstoffe, deren Giftigkeit für Menschen und Natur sich nicht nur addieren, sondern potenzieren kann, enthalten. Aber auch diese Kombinationswirkung wird kaum je geprüft.
Zu guter Letzt ist beim Prüfungsverfahren auch auf die Naivität der Behörden wie das Agroscope, das SECO und das BAFU Verlass. Denn bei vielen zu inspizierenden Wirkstoffen ist aufgrund der toxikologischen Daten klar, dass sie sehr schädlich für Wasserorganismen, Bodenorganismen oder Insekten sind und sie nach den geltenden Regularien eigentlich nicht zugelassen werden dürften. Die Behörden anerkennen die negativen Folgen für die Umwelt zwar, gehen aber davon aus, dass diese sich mit der Zeit wieder erholen wird. Der grösste Trugschluss überhaupt. Denn solch eine Erholung wäre nur möglich, wenn die Organismen aus anderen unbelasteten Gewässern oder Gebieten wieder einwandern würden, – doch diese gibt es gar nicht, denn Pestizide sind allgegenwärtig.
Einmal zugelassen, spärlich überwacht
Nicht nur bei der Bewilligung von Pestiziden, auch bei der Überwachung des Einsatzes der Pflanzenschutzmittel hapert es in der Schweiz gewaltig. So wird etwa das wichtige Vorsorgeprinzip, wonach Einwirkungen frühzeitig zu beschränken sind, sollten sie für Mensch oder Umwelt zu schädlich sein, weitgehend missachtet. Denn nur so ist zu erklären, dass nach wie vor zwei Dutzend für die Fruchtbarkeit des Menschen schädigende Pestizide mit einer Verkaufsmenge von über 100 Tonnen pro Jahr in der Schweiz zugelassen sind. Ebenso ist die Dauervergiftung von kleineren Gewässern hierzulande seit Jahren bekannt. Und obwohl die Rechtsgrundlagen für einen Bewilligungsentzug schon im heutigen Regelungssystem vorhanden sind, haben es die Behörden bislang nicht geschafft, diese Umweltgifte aus dem Verkehr zu ziehen.
Das Zulassungsverfahren von Pestiziden in der Schweiz ist mangelhaft. Ein weiterer Grund bei der Abstimmung vom 13. Juni ein doppeltes JA zur Trinkwasserinitiative und zur Initiative für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide in die Urne zu legen. Nur so kann die umweltzerstörerische Subventionierung der Landwirtschaft gestoppt werden. Und nur so schaffen wir es, dass sich in Zukunft alle Menschen in der Schweiz mit gesunden Nahrungsmitteln ernähren, reine Luft atmen und sauberes Wasser trinken können.
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Wie tönt das Kriechen eines Regenwurms? Und was sagen die unendlich vielen Geräusche der andern Bodentiere über dessen Fruchtbarkeit aus? Hören Nachtkerzen wirklich das Summen von Bienen, und wie kommuniziert die Apfelblüte mit der Biene? Wie können Engadinerschafe die prachtvolle Blumenvielfalt unserer Alpen erhalten helfen? Es überrascht immer wieder von neuem, wie viel komplexer, dynamischer und differenzierter die Beziehungsnetze zwischen Pflanzen, Tieren und Mikroben sind, als wir uns das vorstellen können. Und auch wir sind Teil davon.
In Indien spielt sich gerade Unglaubliches ab: Andhra Pradesh, ein Staat grösser als die Schweiz, Österreich und Belgien zusammen, will bis 2027 ganz auf synthetische Pestizide verzichten. Dabei setzt er auf Mischkulturen, Kühe und engagierte Dorfgemeinschaften.
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