Das Bundesgericht hat eine Beschwerde von Anwohnerinnen und Anwohnern des Atomkraftwerks Beznau gegen dessen Weiterbetrieb wegen mangelnder Erdbebensicherheit teilweise gutgeheissen. Gemäss Urteil hat die Atomaufsicht ENSI seine Aufgabe zur Gewährleistung der nuklearen Sicherheit «ungenügend wahrgenommen». Es unterliess es, einen zusätzlichen Sicherheitsnachweis für eine zweite Störfallkategorie zu verlangen. Das AKW Beznau hätte diesen kaum erbringen können und schon 2012 ausser Betrieb genommen werden müssen. Diese Fehlleistung des ENSI ist kein Einzelfall. Greenpeace, die SES und der Trinationale Atomschutzverband TRAS fordern deshalb die Politik dringend auf, dafür zu sorgen, dass die gesetzliche Aufsichtspflicht konsequent umgesetzt wird und der dafür notwendige Kulturwandel beim ENSI stattfindet.
Die Beschwerde
Nach dem Unfall von Fukushima forderte die schweizerische Atomaufsichtsbehörde ENSI von den AKW-Betreibern einen neuen Sicherheitsnachweis für die Beherrschung eines sogenannt 10‘000-jährlichen Erdbebens. Dieser Nachweis ergab beim AKW Beznau eine Strahlenbelastung von bis zu 78 Millisievert (mSv). Weil das ENSI dieses 10‘000-jährliche Erdbeben der Störfallkategorie 3 mit dem Grenzwert 100 mSv zuordnete, erachtete es diesen Sicherheitsnachweis als erbracht. Die Beschwerdeführenden, unterstützt von Greenpeace, der SES und dem Trinationalen Atomschutzverband TRAS, forderten demgegenüber entweder die Zuordnung dieses 10‘000-jährlichen Erdbebens zur Störfallkategorie 2 mit gesetzlichem Grenzwert 1 mSv oder wenigstens die Untersuchung eines auch diese Störfallkategorie 2 abdeckenden Spektrums von Erdbebengefährdungen.
Das Urteil des Bundesgerichts
Zwar stützt das Bundesgericht nun das ENSI bei der Zuordnung des 10‘000-jährlichen Erdbebens zur Störfallkategorie 3 mit dem Grenzwert 100 mSv. Zugleich kritisiert es aber das selektive Vorgehen des ENSI mit den Worten klar, dieses habe «seine ihm gesetzlich übertragene Aufgabe … ungenügend wahrgenommen» (vgl. Erwägung 15.3, S. 33/34 des Urteils) Das Bundesgericht verlangt auch für die Störfallkategorie 2 einen «repräsentativen» Sicherheitsnachweis. «Repräsentativ» kann nur bedeuten, dass ein solcher Sicherheitsnachweis Gefährdungen abdecken muss, welche die ganze Bandbreite zwischen dem 100- und dem 10’000-jährlichen Ereignis umfasst. Das Ergebnis dieses Nachweises hätte nicht wesentlich anders ausfallen können als jenes von 2012 und hätte den Grenzwert von 1 mSv wohl sehr deutlich überschritten. Davon geht implizit auch das Bundesgericht aus: «Dies gilt umso mehr, als (soweit ersichtlich) im Zeitpunkt der Einforderung des vorliegenden Sicherheitsnachweises nicht davon ausgegangen werden konnte, dass auch bei einem häufigeren Ereignis als demjenigen der Störfallkategorie 3 (…) der Dosisgrenzwert der Störfallkategorie 2 von 1 mSv eingehalten würde.» Dies hätte zur unverzüglichen Ausserbetriebnahme des AKW Beznau führen müssen (vgl. Erwägung 17, S. 34/35 des Urteils). Nur weil ein solcher Nachweis wegen der rechtsverletzenden Unterlassung des ENSI fehlte, durfte das AKW Beznau bis heute in Betrieb bleiben.
Folgen des Urteils
Als Konsequenz verpflichtet das Bundesgericht das ENSI, nun nachträglich einen entsprechenden Sicherheitsnachweis zu verlangen, soweit dies nicht durch anderweitige Überprüfungen gegenstandslos geworden sei. Dabei geht das Bundesgericht davon aus, dass dafür das seit 1. Februar 2019 geltende Recht anwendbar ist. Ob und inwieweit dieses neue Verordnungsrecht gegen höherrangiges Recht verstösst, hat das Bundesgericht im aktuellen Verfahren leider zu klären explizit abgelehnt.
Aufarbeitung und Konsequenzen gefordert
Das Urteil reiht sich ein in eine Reihe anderer Vorkommnisse ein, bei denen die Sicherheit der laufenden AKW mangelhaft überprüft wurde (so z.B. kürzlich die jahrzehntelang fehlenden Schockabsorber der Notstromdiesel im AKW Beznau). Für Greenpeace, die Schweizerische Energie-Stiftung SES und den Trinationalen Atomschutzverband TRAS, welche die Beschwerde unterstützten, ist klar, dass das Urteil Konsequenzen haben muss. Sie fordern die Politik auf, dafür zu sorgen, dass die Aufsicht den ältesten AKW-Park der Welt konsequent beaufsichtigt und der dafür notwendige Kulturwandel eingeleitet wird.
«Durch die Verletzung seiner Aufsichtspflicht hat das ENSI der Axpo den jahrelangen Weiterbetrieb des AKW Beznau ermöglicht, statt es unverzüglich ausser Betrieb zu nehmen. Das ist für die Betroffenen ungeheuerlich.»
Nils Epprecht, Geschäftsleiter SES
«Ob das ENSI wusste was es tat, oder ob es bloss schlampte – einmal mehr werden damit die wirtschaftlichen Interessen der Axpo über den Schutz der Bevölkerung gestellt. Das ist für die Schweiz eine bittere Erkenntnis.»
Florian Kasser, Atombeauftragter Greenpeace
«Die Unfälle von Tschernobyl und Fukushima haben die fatalen Folgen eines Versagens der Atomaufsicht aufgezeigt. Dieses Urteil belegt das Versagen des ENSI, geltendes Recht durchzusetzen.»
Ruedi Rechsteiner, Vizepräsident TRAS
Beznau Verfahren
Im August 2015 haben Greenpeace Schweiz, die Schweizerische Energie-Stiftung (SES) und der Trinationale Atomschutzverband (TRAS) aufgedeckt, dass das AKW Beznau einem schweren Erdbeben nicht standhalten würde. Gefährliche Mengen Radioaktivität würden freigesetzt und die geltenden Strahlenschutz-Grenzwerte verletzt. Zu diesem Schluss gelangten die drei Organisationen nach Analyse der Sicherheitsüberprüfungen, die 2012 im Nachgang der Fukushima-Katastrophe gemacht wurden. Darauf folgend hatten Beznau-Anwohnende Rechtsschritte gegen das ENSI und das AKW eingeleitet. Ende Januar 2019 hatte das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde in erster Instanz abgewiesen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde nun teilweise gut.