Mitten in der Covid-19-Pandemie steht der Amazonas-Regenwald wieder in Flammen. Besonders betroffen: Brasiliens indigene Völker.
«Es gibt viele Feuer, es gibt viele Invasionen. Die Situation ist schlimm für uns.» Es sind die ersten Worte, die Kátia Silene sagt, als man sie per Whatsapp-Anruf erreicht. «Aber Brasiliens Umweltbehörde schaut zu und hilft uns nicht», fügt sie klagend hinzu. Die 52-jährige ist eine Ureinwohnerin des Volksstamms der Gaviãos. Sie leben im Reservat Mãe Maria im Südosten des brasilianischen Bundesstaats Pará. Es ist mit 620 Quadratkilometern etwas kleiner als der Kanton Glarus. Rund 1000 Menschen zählt das Volk der Gaviãos, sie unterteilen sich in die Untergruppen Akrãtikatêjê, Kykatejê und Parkatêjê. Auch der indigene Name von Kátia Silene mag für Mitteleuropäer erst einmal schwer auszusprechen erscheinen: Tonkyre Hompryre. Es ist eine Zusammensetzung verschiedener Begriffe: das Fest des Gürteltierweibchens und die Feier für den grünen Mais.
Kátia Silene war die erste weibliche Anführerin der Gaviãos, die erste Kazikin ihres Volks. Sie sagt, sie habe die Tür für andere starke Frauen aufgestoßen. Heute gilt sie als eine der wichtigsten und lautesten Stimmen der indigenen Völker Brasilien im Kampf gegen die zunehmende Zerstörung ihres Lebensraums und des Amazonaswalds. Dieser ist derzeit vor allem durch die Feuer gefährdet, die an Tausenden verschiedenen Orten brennen. Es ist Trockenzeit im Amazonasbecken und damit Brandsaison. Die Brände können auf natürliche Weise ausbrechen – so wie die enormen Feuer, die derzeit im Feuchtgebiet des Pantanal brennen, das sich südlich an die Amazonasregion anschließt. Sie können auch von Indigenen oder Kleinbauern stammen, die neue Flächen für den Anbau schaffen oder alte Felder für eine neue Aussaat vorbereiten. Die Größe dieser Flächen ist jedoch gering. Viel häufiger werden die Brände dagegen von Kriminellen gelegt. Sie fackeln riesige Waldgebiete ab, aus denen sie zuvor die wertvollsten Hölzer geraubt haben. Die verbrannten Flächen werden dann zur Landspekulation, als Rinderweiden oder als Flächen für die Landwirtschaft genutzt.
«Wir haben in unserem Reservat seit zwei Jahren immer stärker mit Holzfällern und Brandstiftern zu kämpfen», erzählt Kátia Silene. «Sie agieren an den Rändern unseres Reservats.» Eins der Feuer erreichte sogar ein Dorf der Gavião, eine Schule und ein Kulturhaus sind dabei abgebrannt. Früher, so berichtet Kátia Silene weiter, hätten die Indigenen bei der Bekämpfung der Feuer und der illegalen Holzfäller auf die Unterstützung durch Brasiliens Umweltbehörde IBAMA und die Indio-Schutzbehörde Funai zählen können. Doch seit der Rechtsextremist Jair Bolsonaro 2019 das Präsidentenamt angetreten hat, wurden beide Behörden systematisch entmachtet. Es wurden ihnen Mittel, Personal und Kompetenzen gestrichen und Führungsposten mit Militärs besetzt, die häufig wider den eigentlichen Auftrag der Institutionen handeln. «Das IBAMA ist komplett abwesend», klagt Silene. Tatsächlich gab es früher sogar eine indigene Feuerbrigade im Reservat der Gaviãos. Sie wurde vom IBAMA finanziert und ausgebildet. Nun wurde sie einfach aufgelöst. «Wir werden alleine gelassen», sagt Kátia Silene erschüttert, «und das inmitten der Covid-19-Pandemie. Wir müssen zur selben Zeit an zwei Fronten kämpfen.»
Im Schatten des Corona-Virus
Vergangenes Jahr loderten zehntausende Feuer im Amazonasbecken und die Welt blickte – sensibilisiert von der Klimafrage und der Fridays-for-Future-Bewegung – erschrocken nach Brasilien. Nun haben die Brände dieses Jahr noch einmal zugenommen, werden von den internationalen Medien allerdings im Schatten der Covid-19-Pandemie eher nebensächlich behandelt. Dabei bricht die Zahl der Feuer 2020 zum dritten Mal in Folge einen neuen, traurigen Rekord. Brasiliens nationales Weltraumforschungsinstitut (INPE) hat zwischen dem 1. Januar und dem 16. August bereits rund 8000 Brände im Amazonasbecken registriert. Um sie aufzuspüren, benutzt das INPE Satelliten, es gilt in der Technik weltweit als führend. 2019 hatte das Institut im gleichen Zeitraum 6315 Feuer erkannt; 2018 waren es «nur» 2660. Die Zunahme um ganze 300 Prozent innerhalb von nur 24 Monaten deutet auf die intensive Aktivität illegaler Holzfäller, Landspekulanten und Viehzüchter hin.
«Für den Anstieg ist die fehlende Umweltpolitik der Regierung verantwortlich», erklärt Rômulo Batista, der bei Greenpeace Brasilien für die Waldkampagne zuständig ist. Er befürchtet, dass 2020 zum schlimmsten Jahr für den Amazonaswald seit langer Zeit werden könnte. Seine Befürchtung ist begründet: Die entwaldete Fläche stieg zwischen August 2019 und Juli 2020 um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Auch diese Daten stammen von Auswertungen der Satellitenbilder des INPE. In zwölf Monaten wurde somit eine Fläche von 9205 Quadratkilometern abgeholzt. Das entspricht der gemeinsamen Größe der Kantone Graubünden und St. Gallen.
Überfliegt man die Brandherde, dann sieht man, wie riesige Kastanien und Kautschukbäume brennen. So berichten es Journalisten der Agentur Amazônia Real. Die verkohlten Kadaver von Tieren bedeckten den Boden: Schlangen, Ameisenbären, Affen und Gürteltiere, die noch vergeblich versuchten, den Flammen zu entkommen. Die Waldzerstörer stört das nicht. Sie fühlen sich offenbar von der Rhetorik des brasilianischen Präsidenten ermutigt. Jair Bolsonaro betont immer wieder, dass die Amazonasregion endlich zur wirtschaftlichen Ausbeutung geöffnet werden sollte. Das gefällt den Viehzüchtern und Sojabauern, den Minenkonzernen, den zehntausenden illegalen Goldsuchern, der Holzmafia und den Landspekulanten. Sie alle zählen zu den treuesten Wählern Bolsonaros. «Sie wollen uns den Wald stehlen», beteuert Kátia Silene.
Leere Versprechen
Bei allem muss man auch erwähnen, dass die Bolsonaro-Regierung in diesem Jahr versprochen hatte, endlich etwas gegen die Waldvernichtung zu unternehmen. Sie war aufgeschreckt worden von den Warnungen ausländischer Unternehmer und Investoren. Im Mai hatte eine Gruppe von 40 internationalen Großhändlern eine Verpflichtung Brasiliens zum Schutz der Umwelt und der indigenen Völker verlangt. Die Drohung eines Boykotts brasilianischer Produkte stand im Raum. Im Juni folgte eine Gruppe internationaler Investmenthäuser, die gemeinsam rund vier Milliarden Dollar verwalten. In einem Brief äußerten sie ihre «große Besorgnis» über die Abholzung. Sie sei negativ für Kunden, die mit der Abholzung in Verbindung gebracht werden könnten.
Im Juli erhielt Vizepräsident Hamilton Mourão schließlich ein Schreiben von 38 brasilianischen und internationalen Konzernchefs mit ähnlichem Tenor. Der Text warnte nicht nur vor einem Ansehensverlust Brasiliens, sondern sagt konkrete Schäden für Brasiliens Volkswirtschaft voraus, sollte sich nicht etwas ändern. Es wurde deutlich, dass Nachhaltigkeit zu einem wichtigen Kriterium in Teilen der Wirtschaft geworden ist und Verbraucherdruck etwas bewirken kann.
Allerdings lässt die aktuelle Entwicklung an der Ernsthaftigkeit des Versprechens der brasilianischen Regierung zweifeln, etwas für den Waldschutz zu tun. Präsident Bolsonaro hat zwar den Nationalen Amazonasrat ins Leben gerufen, der von seinem Vize Mourão geleitet wird. Das offizielle Ziel ist, die Region «zu bewahren und Brasilien zu entwickeln». Allerdings ist schon die Zusammensetzung des Gremiums fragwürdig. Mourão, ein Vier-Sterne-General, hat weder Umweltschützerinnen noch Vertreter der Umweltbehörde IBAMA oder der Indio-Schutzbehörde Funai in den Rat geholt. Stattdessen wurden neben einigen Ministern gleich 19 Militärs berufen. Fast folgerichtig erscheint es, dass auch die Überwachung des Amazonasbeckens der darauf spezialisierten Umweltbehörde IBAMA entzogen und der brasilianischen Armee übertragen wurde.
Die entmachteten Umweltpolizisten des IBAMA spotten nun darüber, dass die Soldaten Umweltkriminelle bekämpfen sollen, obwohl sie dafür weder das nötige Knowhow noch die nötige Erfahrung haben. Einer der Beamten, der anonym bleiben möchte, sagte gegenüber dem Greenpeace-Magazin, dass der Armeeeinsatz eine Show fürs Ausland sei. Es bestehe kein ernsthaftes Interesse daran, gegen die Holzmafia, Landtitelfälscherinnen und Viehzüchter vorzugehen. Die Regierung stecke mit ihnen unter einer Decke.
Eine Widersprüchlichkeit folgt der nächsten
Im Widerspruch zum Versprechen der Regierung stehen auch die drastischen Budgetkürzungen des Weltrauminstituts INPE. Das INPE ist eins der wichtigsten Werkzeuge im Kampf gegen die Abholzung, weil dessen Satellitenbilder die nötigen Informationen über Orte und Ausmaß der Amazonaszerstörung liefern. Die Kürzungen machten eine effiziente Arbeit nun so gut wie unmöglich, sagt Alice Thuault vom Institut Centro de Vida, das seit fast 30 Jahren gegen die Brände im Amazonas-Regenwald kämpft. Die Regierung will durch die Kürzungen offenbar den Überbringer der schlechten Nachrichten zum Verstummen bringen. Wenn es keine Informationen mehr über Brände und Abholzung gibt, so offenbar das Kalkül – dann verschwinden sie aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit.
Dieser Logik folgt auch die Behauptung von Präsident Jair Bolsonaro, der in einem Online-Treffen mit anderen Staatschefs der Amazonasregion behauptete, dass es eine Lüge sei, dass der Amazonas brenne. Ausländische Mächte hätten ein Interesse daran, Brasiliens Image zu schaden, sagte er. Für Kátia Silene von den Gaviãos klingt das wie blanker Hohn. Sie erlebt jeden Tag, wie Feuer im Reservat ihres Stammes brennen. «Bolsonaro betrachtet uns Indigene nicht als Menschen», sagt sie. «Er will uns das Land und unsere Rechte nehmen.»
Die Kazikin berichtet, dass ihr Volk von der Jagd, vom Fischen, dem Anbau von Mais und Bananen, der Hühnerzucht sowie dem Sammeln von Amazonasfrüchten wie Açaí und Cupuaçu lebe. Außerdem erhalten die Gaviãos eine Pacht für eine Frachtzugstrecke des Minenkonzerns Vale, die durch ihr Reservat führt. Vale will die Strecke nun ausbauen und die Gaviãos kämpfen um eine Erhöhung der Zahlungen. «Ohne uns Indigene gäbe es gar keinen Amazons-Regenwald mehr», sagt Silene. «Wir sind die Wächter des Waldes.» Tatsächlich sind die Reservate der Ureinwohner die letzten Bollwerke gegen die Waldvernichtung, wie eine Studie des World Resources Institut ergeben hat. Nirgends ist die Natur noch so intakt wie hier. Während in den vergangenen 40 Jahren rund 20 Prozent des Amazonaswalds vernichtet wurde, verloren die indigenen Reservate lediglich zwei Prozent ihre Waldflächen.
Doch ausgerechnet die indigenen Völker Brasiliens wurden nun von der Covid-19-Pandemie besonders hart getroffen. Laut dem Ureinwohnerverband Coiab starben im Amazonasbecken bislang 579 Ureinwohnerinnen von 90 verschiedenen Ethnien. Ihre Mortalität (Covid-19-Tote pro 1000 Menschen) liegt damit weitaus höher als in der restlichen Bevölkerung. Besonders alte Indios starben, was für die Indigenen besonders tragisch ist, weil diese häufig Schamanen, Ratgeber und wichtige Anführer waren, die über traditionelles Wissen und Fertigkeiten verfügten, die mit ihnen ins Grab gegangen sind.
Dramatisch ist die Situation auch für die rund zwei Dutzend immer noch isoliert lebenden Völker, also Indio-Gruppen, die so gut wie keinen Kontakt mit der Außenwelt pflegen. Sollte das Virus sie erreichen, wären sie vom Aussterben bedroht, weil ihre Gemeinschaften oft sehr klein sind und ihr Immunsystem nicht auf Viren vorbereitet ist.
In Kátia Silenes Gemeinde starb eine alte Frau. «Wir haben uns relativ früh in unsere Dörfer entlang der Flüsse zurückgezogen und isoliert», erläutert sie, «deswegen verlief die Pandemie bei uns relativ glimpflich.» Sobald die Pandemie vorbei ist, will sie den Kampf für die Rechte ihres Volkes wieder voll aufnehmen. «Wir haben einen mächtigen Gegner, aber wir geben nicht auf.»