Der Klimawandel hat eine bislang unbeachtete Dimension: Er wirkt sich auf die Töne der Natur aus. Die Klangwelten unserer veränderten Umwelt berühren.
Eigentlich, so findet Ludwig Berger, habe sich der Klimawandel bereits bei seiner ersten Wanderung zum Morteratschgletscher gezeigt. Nicht nur, weil er an den vielen Markierungen vorbeikam, die den Rückgang des Eises wie die Chronik eines angekündigten Todes festhalten. Es war Februar 2016, ein sonniger und warmer Tag. Eindeutig zu sonnig und eindeutig zu warm.
Berger ging durch das bauchig geschliffene Tal, im Gepäck Mikrofone, wie sie für Unterwasseraufnahmen eingesetzt werden. Er, ausgebildet in Musikwissenschaft und elektroakustischer Komposition, war gekommen, um dem Gletscher beim Schmelzen zuzuhören, so wie ein Arzt seinem schwerkranken Patienten das Stethoskop aufsetzt. Seit 1880 hat sich die Gletscherzunge um 2,5 Kilometer zurückgezogen, das entspricht einem Viertel seiner Länge. In den vergangenen Jahren hat sich die Schmelzrate mehr als verdoppelt.
Berger plante, Löcher ins Eis zu bohren, die Mikrofone hineinzustecken und die Geräusche der Auflösung zu registrieren. Doch der Versuch endete enttäuschend. «Zuerst hörte ich nur das Rauschen der Mikrofone, sonst nichts», sagt er heute an seinem Arbeitsplatz im Medialab der Abteilung für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich. «Erst als die Löcher wieder zugefroren waren, vernahm ich ein tiefes, andauerndes Dröhnen: den Grundton des Gletschers.» Berger ahnte aber, dass da mehr sein musste.
Ein Grollen und Ächzen
Einen Monat später, nachdem er sich ein paar technische Kniffe angeeignet hatte, zog er zusammen mit einer Gruppe Studierender erneut los. Nun war es Mitte März und jetzt, da der Frühling kommen sollte, wütete ein Schneesturm. Wieder glaubte Berger die Zeichen des Klimawandels zu spüren: «Die Jahreszeiten sind durcheinander.» Während die Gruppe sich durch das Weiss tastete, legte er sich sein Vorgehen nochmals zurecht: «Ich beabsichtigte, die Mikrofone nicht mehr einzufrieren, sondern sie in Schnee eingepackt gegen den Gletscher zu pressen.»
Es funktionierte. Als Berger sich die Kopfhörer aufsetzte, hörte er zum ersten Mal das Eigenleben des Morteratschgletschers. Ein Blubbern, Grollen, Krachen und Ächzen. Ein Rauschen, Tröpfeln und Gurgeln. Ein intergalaktisches Summen, Quietschen und Pfeifen. Der Gletscher murrte, sang, tobte, stöhnte, jubilierte und weinte. Er zog alle Register, kippte eine Schachtel Schrauben aus, mischte Karten, bewegte knarzende Schubladen und klimperte auf einem Synthesizer mit Kurzschluss. Nichts liess er aus.
Es sei nicht so, dass er den Morteratsch als lebendes Wesen sehe, sagt Berger, als er im Medialab die Aufnahmen vorspielt. «Das ist mir, wie soll ich sagen, zu emotional und zu kitschig.» Aber wenn er sich überlege, was sich hinter diesen Tönen verberge, weshalb sie entstehen, dann berühre ihn das – «sogar sehr.» Die Begegnung mit dem Gletscher haben Berger und die Studenten inzwischen in einer Ausstellung gezeigt, in Vinyl gepresst und – auszugsweise – auch im Internet publiziert.
Eigene akustische Signatur
Der Klimawandel hat eine bislang kaum beachtete Dimension: Er heizt nicht nur die Atmosphäre auf, lässt die Meeresspiegel steigen und ruft Dürren hervor, er wirkt sich auch auf die Welt der Geräusche aus. Die Bedeutung dieser Welt, Soundscapes oder Klanglandschaften genannt, hat Raymond Murray Schafer als Erster erkannt. In den 60er-Jahren realisierte der kanadische Komponist, dass die Partitur der Natur aus mehr als nur Tönen besteht. Klanglandschaften spiegeln die Umwelt und geben Auskunft über die Artenvielfalt.
Jede Klanglandschaft hat dabei ihre eigene akustische Signatur. Fehlen Tierstimmen plötzlich, weil die Tiere vertrieben, dezimiert oder ausgerottet wurden, verändert sich die Signatur. Schafers Erkenntnis passte in die Zeit. Kurz zuvor hatte die Zoologin Rachel Carson recherchiert, wie das Pestizid DDT in den USA Millionen von Singvögeln tötete. Der Titel ihres Buchs: «Silent Spring».
CO2 stört Kommunikation
Zur gleichen Zeit, wie Ludwig Berger in den Schweizer Alpen dem Morteratsch zuhört, beschäftigt sich der Meeresbiologe Tullio Rossi mit einer ganz anderen Klanglandschaft. Rossi, in Italien geboren und in Australien zu Hause, geht einer Frage nach, die «lange Zeit aus rätselhaften Gründen» nicht beachtet worden ist: Beeinflusst der Klimawandel auch das Leben unter der Wasseroberfläche? Konkret: Verändert das CO2 die Kommunikation der Meeresbewohner?
Um eine Antwort zu erhalten, suchte Rossi weltweit nach Gewässern, deren CO2-Belastung schon heute so hoch ist, wie sie für Ende des Jahrhunderts prognostiziert wird. Er wurde fündig, und zwar vor den Inseln Ischia und Vulcano im Mittelmeer sowie vor White Island im Indischen Ozean. Hier setzen vulkanische Unterwasserschlote CO2 in den vorausgesagten Mengen frei. Rossi montierte auf Riffen in der Nähe der Schlote Unterwasserrecorder.
Riffe sind die Heimat der Knallkrebse, nur wenige Zentimeter grosser Tiere, aber nach den Pottwalen die zweitlauteste Geräuschquelle unter Wasser. Beim blitzschnellen Schliessen ihrer grösseren Schere erzeugen sie eine Blase, die kurz darauf implodiert und einen Knall erzeugt. Klappert eine Krebskolonie mit den Scheren, entsteht dabei ein Geräusch wie das Prasseln eines heftigen Gewitterregens oder die Trommelwirbel einer Schar Jungkadetten. Die Tiere kommunizieren auf diese Weise miteinander, betäuben so aber auch ihre Beute.
Rossi zeichnete auf, wie laut und wie häufig die Knallkrebse ihre Scheren nutzen, und verglich die Ergebnisse mit Daten aus Meeresgegenden, die noch weniger mit CO2 belastet sind. Als die Resultate vorlagen, erschrak er. Diese Deutlichkeit hatte er nicht erwartet: «Die Krebse vor den Vulkaninseln knallen tatsächlich klar weniger häufig und auch weniger laut. Das heisst » – Rossi sucht nach den richtigen Worten – « in einigen Jahrzehnten wird es in den Weltmeeren entscheidend ruhiger sein.»
Das hat Konsequenzen. Knallkrebse dienen Meeresbewohnern wie Fischlarven als Wegweiser. In ihren Genen haben die Jungfische die Information gespeichert, dass sie am Ursprung des Lärms, in den Riffen, Schutz vor Räubern finden. Also schwimmen sie auf das Scherengeklapper zu. Rossi spinnt den Faden weiter: «Wenn das Knallen der Krebse zu leise ist und die Larven den Weg ins Riff nicht mehr finden, werden sie gefressen und die Ökologie der Ozeane gerät noch mehr durcheinander, als sie es bereits ist. Das heisst, irgendwann fehlen die Fische auch auf unseren Tellern.» Bei bald neun Milliarden Erdbewohnern werde das zum Problem. Seine wissenschaftliche Arbeit über die Knallkrebse hat Tullio Rossi mit «Silent Oceans» überschrieben.
«Dramatische Eingriffe»
«Soundscapes» haben sich inzwischen zu einer eigenen Forschungs- und Kunstrichtung entwickelt und machen den Klimawandel auf einer neuen Ebene erfahrbar. Der Amerikaner Bernie Krause, seit 40 Jahren als Klangforscher unterwegs und weltweit als Koryphäe anerkannt, hat in einem langen Papier zusammengestellt, wo sich die Folgen des Treibhauseffekts akustisch zeigen. Um es kurz zu machen: Sie finden sich überall. Im Gesang der Vögel, die aus ihren angestammten Lebensräumen vertrieben werden; im Gesang der Wale, die Frequenz, Intensität und Dauer ihrer Töne anpassen; in der Reichweite des Ultraschalls, den Fledermäuse zur Jagd einsetzen; in den Paarungsrufen der Frösche, die an Intensität verlieren oder ganz ausbleiben.
«Der Klimawandel löst unwiderrufliche Transformationen von Lebensräumen aus, er führt zu dramatischen Eingriffen in die Tiergemeinschaften und er provoziert das schnelle Aussterben von Arten», fasst Krause zusammen.
Trockenstress im Wallis
Darüber hinaus offenbart sich der Klimawandel auch in Bereichen, die dem menschlichen Ohr nicht zugänglich sind, etwa im Innern von Bäumen. Im Frühjahr 2018 reist der Zürcher Naturwissenschaftler und Klangkünstler Marcus Maeder ins Wallis und steigt bei Salgesch in die Höhe Richtung Trubelstock, bis er einen Vorsprung erreicht, von dem aus das ganze Tal überblickbar ist. Hier steht eine einzelne Föhre. Maeder begrüsst sie wie eine alte Freundin. 2015 stellte er sie, in Kooperation mit dem Ökophysiologen Roman Zweifel, ins Zentrum seiner Installation «trees», einer multimedialen Arbeit über die Auswirkungen des Klimawandels auf Bäume. Die Installation ging rund um die Welt. Zudem lud der damalige Präsident Frankreichs, François Hollande, Maeder und Zweifel ein, sie an der Klimakonferenz COP21 in Paris mit 200 teilnehmenden Staaten zu zeigen.
Maeder taxiert die Föhre: «Es geht ihr gut.» Er klingt erleichtert. Pause. «Sie ist ja noch jung.» Anders die Bäume in der Umgebung. Sie erreichen nunmehr eine Höhe von zehn Metern, dann hören sie auf zu wachsen, und die vielen Misteln zeugen von der Anfälligkeit auf Parasiten. Es sei viel zu trocken im Wallis, und es werde immer trockener, so Maeder. «Die Bäume haben Stress, grossen Stress.» Wichtigster Grund: der Klimawandel. «Das ist wissenschaftlich ziemlich eindeutig nachgewiesen.»
Maeder macht sich daran, am Beispiel seiner Jungföhre die Folgen hörbar zu machen. Aus einer gut gepolsterten Box nimmt er eine vergoldete Nadel – sie dient ihm als akustischer Sensor –, steckt sie in die Rinde eines Asts und verbindet sie mit einem Verstärker. Dann setzt er sich Kopfhörer auf. Ein feines Blubbern, Rauschen und Fliessen erklingt, dazwischen dumpfes Knacken, mal lauter, mal leiser, als würden Zündhölzer brechen, wie Schritte in einem Holzhaus, dann wieder das Blubbern und Knacken. «Kavitationen», sagt Maeder. «Sie entstehen, wenn im Innern des Asts der Saftfluss abreisst und Luft eindringt.»
Die Konsequenzen? Maeder deutet in die Krone der umgebenden Föhren: Manche Äste sind bereits ganz braun, andere teilweise. Die Versorgung mit Nährstoffen genügt nicht mehr; die Bäume verdursten. Die Jungföhre wird bald dieselben Symptome zeigen. Dann schaut er hinunter ins Tal auf den 10’000 Jahre alten Pfynwald, einen Naturpark von regionaler Bedeutung und zugleich Schutzwald der Gemeinde Leuk. «Ich hoffe, ich täusche mich, aber dieser Wald wird in 50 Jahren wahrscheinlich ganz anders aussehen.»
Klänge beeinflussen Empathie
Maeder wie auch Meeresbiologe Rossi und Komponist Berger interessieren sich alle aus dem gleichen Grund für Klanglandschaften: Töne haben den direktesten Zugang zu unseren Herzen, sie berühren mehr als andere Eindrücke. Geräusche wie Lachen und Weinen führen zu einer besonders hohen Aktivität in der Grosshirnrinde und bewirken, dass wir mitfühlen und uns engagieren. Töne beeinflussen auch unsere visuelle Wahrnehmung; wir erleben optische Eindrücke anders, wenn wir dazu traurige oder fröhliche Musik hören. Zusammengefasst: Klänge beeinflussen, wie viel Empathie wir entwickeln.
Für Bernie Krause sind Klanglandschaften deshalb der beste Weg, um dem Klimawandel endlich zur nötigen Aufmerksamkeit zu verhelfen: «Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Aber eine Klanglandschaft sagt mehr als tausend Bilder.»
Christian Schmidt, Journalist, Texter für Non-Profit-Organisationen und Buchautor. Freischaffend aus Überzeugung. Diverse Auszeichnungen, u. a. Zürcher Journalistenpreis.
Lina Müller, aufgewachsen im Solothurner Jura, arbeitet als freischaffende Illustratorin und Künstlerin, studierte an den Hochschulen für Gestaltung und Kunst Zürich und Luzern und an der Academy of Fine Arts in Krakau.