Mit dem Klimawandel verändern sich Temperatur und Niederschläge. Trockenheit, Hochwasser und Hangrutsche nehmen zu, Pflanzen entwickeln sich anders. Um die Veränderungen zu verstehen und sich den neuen Bedingungen anpassen zu können, braucht es Menschen und ihre Beobachtungen. Drei Beispiele, wie die zivilgesellschaftliche Beteiligung in der Wissenschaft und bei der Anpassung an den Klimawandel funktionieren kann.
«Als ich über die vibrierende Brücke rannte, hörte ich nur noch dieses laute, tiefe Grollen. Es kam von den Steinen, die mit unbeschreiblicher Wucht den Steinibach hinunterdonnerten.» Die teilweise riesigen Brocken hätten auch stark gerochen, erzählt Michèle Odermatt: «Nach Schwefel, von der Reibung.» Die Naturgefahrenberaterin der Gemeinde Dallenwil NW war eilig auf dem Weg in die Einsatzzentrale der Feuerwehr, es war eine Juninacht im Jahr 2015, niemand hatte am Vorabend damit gerechnet, dass das Wasser nochmals so hoch und gewaltig kommen würde.
Irgendwann hörte es dann auf zu regnen in der im Tal liegenden Gemeinde im Kanton Nidwalden. Was die Leute im Dorf nicht ahnten: Oben am Stanserhorn waren am Vorabend zwei Gewitter aufeinandergetroffen, blieben an Ort und Stelle und es regnete stark weiter.
Nachtarbeit ohne Lohn
Seit jener Nacht fragt im Dorf keiner mehr, warum sie diese Arbeit als freiwillige Naturgefahrenberaterin macht. Der kleine Bach kann bei Unwetter trotz Verbauungen zum gefährlichen Wildbach werden und einzelne Hangbereiche oberhalb des Dorfes sind stark rutschgefährdet. Michèle Odermatt beobachtet gezielt Bach und Hänge; die Umweltingenieurin mit Erfahrung im Wasserbau wurde mit anderen Naturgefahrenberatern im Kanton dafür ausgebildet. Was sie von ihnen unterscheidet: Sie ist die einzige Frau. Und noch nicht mal aus dem Kanton, sondern zugezogene Stadtzürcherin, der Liebe wegen. Sie fühle sich gut akzeptiert.
Für ihre Arbeit wird die 35-Jährige nicht entlöhnt, einzig für Unwettereinsätze und Sitzungen gibt es ein bescheidenes Honorar. Verantwortung hat sie offiziell keine. Aber wenn es Unwetterwarnungen für ihre Region gibt, gehe sie nie ohne Handy zu Bett – und manchmal studiere sie in der Nacht noch Wetterkarten.
Odermatt lebt mit ihrer Familie im oberen Teil des Dorfes. Beim Unwetter vor drei Jahren wurde auch ihr Haus nicht verschont: Auf einer Wiese bildete sich ein Rinnsal, daraus wurde innert Minuten ein Bach, der in den Keller des 150 Jahre alten Hauses eindrang. Das habe es noch nie gegeben, sagte Odermatts Schwiegermutter am nächsten Tag. Und auch ihr Mann werde nachdenklich, wenn er übers heutige Wetter rede: «Er sagt oft: Es kann nicht mehr einfach normal gewittern, es ist immer extrem.» Alle fragen sich, was da wohl noch kommen mag.
Unruhe in den Bergen
Nach dem grossen Unwetter, das in der Schweiz im Jahr 2005 Schäden von über zwei Milliarden Franken verursacht hatte, traf der Bund verschiedene Massnahmen zu Prävention und Frühwarnung bei Naturgefahren. Der Klimawandel bewirkt im Alpenraum zunehmend Extremniederschläge – Hochwasser und Hangrutsche können Folgen davon sein. Eine Massnahme war, die Gemeinden zu verpflichten, Naturgefahrenberater einzusetzen. Es sind vielerorts Bürger und Bürgerinnen wie Michèle Odermatt, die aufgrund ihres Wissens und ihrer Ortskenntnisse dafür geeignet sind.
Die Arbeit sei pragmatisch, sagt sie: «Wir verfolgen die Entwicklung eines Unwetters, warten ab und im Ernstfall reagieren wir, an der Seite der Feuerwehr.» Warum sie das tut? «Ganz einfach darum, weil mich die Natur und ihre Gewalten interessieren.» Der Bergsturz von Bondo im letzten Jahr habe sie zusätzlich sensibilisiert. Und es bleibt mit dem Rückgang der Gletscher, dem Auftauen des Permafrosts und den vielen Extremniederschlägen unruhig in den Bergen.
Die kontinuierliche Naturgefahrenbeobachtung durch Freiwillige wie Michèle Odermatt bedeutet auch, sich Erfahrungswissen anzueignen und zunehmend kompetent zu werden in der Einschätzung von Ereignissen und Konsequenzen. So wächst durch das Hinschauen und den Austausch eine Art Citizen Science – notabene eine, die Leben rettet.
Esther Banz ist freischaffende Journalistin und Redaktorin in Zürich. Sie vagabundiert für ihre Geschichten gerne bodennah durchs Land.
Isabel Truniger arbeitet als selbstständige Fotografin für diverse Magazine und Auftraggeber. Nebenbei beschäftigt sie sich mit ihrer zweiten Leidenschaft – der Pflanzenwelt – und arbeitet als Gärtnerin.
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