Könnten NGOs in die soziale Arbeit der Kirchen einsteigen? Das würde funktionieren – und wäre ein Gewinn für alle Seiten.
Greenpeace und der Glaube – dieser Zusammenhang ist enger, als die meisten Menschen heute wissen. Die weltweit bekannteste Umweltgruppe wäre ohne religiöse Ideen nicht das geworden, was sie ist: Zu den wichtigsten Gründern der Organisation im kanadischen Vancouver gehörten 1972 Dorothy und Irving Stowe, zwei gläubige Quäker, welche die religiöse Aktionsform des «Bearing Witness» zum Markenzeichen der RegenbogenkriegerInnen machten – als Protest durch Anwesenheit gegen Umweltzerstörung und die Dokumentation des Unrechts. Inspiriert zur Gewaltlosigkeit wurden sie auch von den spirituellen Lehren Mahatma Gandhis, und der Name «Greenpeace» entstand nach dem Treffen in einer Kirche.
45 Jahre später haben sich viele Dinge verändert. Während die Anzahl Spenderinnen und Unterstützer für Nichtregierungsorganisationen stabil bleibt oder wächst, leiden die Religionsgemeinschaften in den Industrieländern unter immer weniger Mitgliedern, Einfluss und Geld. Es wird zunehmend schwieriger, Menschen für das Engagement in der kirchlichen Sozialarbeit zu finden. Vor 100 Jahren waren praktisch alle Schweizerinnen und Schweizer katholisch oder reformiert – heute sind es nur noch 62 Prozent. Weil den Christinnen und Christen der Nachwuchs in den Gemeinden fehlt, überaltern die Strukturen, mehr Hilfsbedürftige stehen weniger Helfenden gegenüber. Und es stellt sich die Frage: Müssen oder können die säkularen Engagierten die Arbeit ihrer kirchlichen Kollegen demnächst übernehmen? Kann Greenpeace die soziale Anlaufstelle übernehmen, der WWF die Schuldnerberatung anbieten oder Amnesty International das Drogencafé betreiben?
Die kurze Antwort lautet: Ja. Wenn es nötig wäre, würde es gehen. Auch wenn es die Sozialarbeit genauso verändern würde wie die Umweltverbände. Aber für Fortschritte in eine lebenswerte Zukunft wäre das vielleicht sogar eine gute Idee.
Man darf nicht vergessen: Die christlichen Kirchen haben unser heutiges Leben und unser soziales Empfinden weit mehr geprägt, als wir denken. Als erste grosse Religion propagierte das Christentum die Liebe und Fürsorge für den Nächsten – der auch die Übernächste sein konnte, der oder die Fremde also. Die Gläubigen sind an diesem hohen Anspruch oft genug gescheitert, wie die Gewalt etwa bei Hexenverfolgung oder Inquisition gezeigt hat. Aber gleichzeitig gründeten sie neben der alltäglichen Sozialarbeit in ihren Gemeinden immer wieder christliche Gemeinschaften (Orden), die sich drängender sozialer Fragen annahmen: Krankenpflege, Betreuung von Strafgefangenen, Hilfe für die Armen, Ausbildung an Schulen und Universitäten, Besiedlung und Urbarmachung von entfernten Landstrichen. Das waren Gruppen, die sich wie die Salesianer um vernachlässigte Kinder kümmerten oder wie Johanniter, Franziskaner und Dominikaner die Krankenpflege übernahmen. Die Mönchs- und Nonnenorden des Mittelalters legten in Europa mit ihrer Arbeit den Grundstein für den modernen Sozialstaat. Die modernen Staaten mit sozialer Absicherung und politischer Teilhabe brachten und bringen immer wieder NGOs hervor, die sich um einzelne Aspekte des Zusammenlebens kümmern – also meist Missstände aufgreifen, die der Staat nicht oder nicht genügend beachtet.
Diese Zivilgesellschaft ist stark. Sie beruht auf der Einsicht, dass Demokratie die beste Form des Zusammenlebens darstellt – und dass sie umso besser funktioniert, je mehr Menschen sich ernsthaft beteiligen. Die Kirchen haben über Jahrhunderte die Ideen von Aufklärung, Wissenschaft und Demokratie bekämpft und diesen Kampf zum Glück verloren. In den liberalen Staaten Europas und weltweit entscheidet nicht mehr der Glaube oder das Dogma einer religiösen Gruppe über wichtige Fragen, sondern die gesamte Öffentlichkeit. Heute garantieren damit die modernen Staaten die Gewissensfreiheit, und die Kirchen sind von ihrem Machtanspruch erlöst. Die Demokratie fordert von den Bürgern, sich mehr als nur über Wahlen und Abstimmungen zu engagieren, und zwar auch dann, wenn es um Aufgaben geht, die bislang von Religionsgemeinschaften erfüllt wurden. So etwas könnte nicht von heute auf morgen passieren. Aber es würde bedeuten, dass kirchlich und zivilgesellschaftlich Engagierte wieder enger zusammenrücken.
Wer sich engagiert, merkt, wie gut das tut: Der Einsatz für andere, die Mit- und Umwelt, bringt Erfüllung, Stolz, Zufriedenheit, soziale Kontakte, Anerkennung und manchmal auch Erfolge.
Das klingt erst einmal seltsam. Aber die Motive für das Engagement sind ähnlich: Mitgefühl, das Bedürfnis zu helfen, das Wissen darum, dass man selbst Hilfe brauchen kann und dass Helfen Freude macht. Kirchlich Engagierte und Regenbogenkämpferinnen sind sich ähnlicher, als sie oft denken. Sie haben mehr miteinander gemein als mit den Leuten aus ihren jeweiligen Gruppen, die sich nicht engagieren: Eine engagierte kirchliche Flüchtlingshelferin verbindet mehr mit einem atheistischen Amnesty-Mitglied als mit ihrem fremdenfeindlichen Glaubensbruder in der Heimatgemeinde.
Wer sich engagiert, merkt auch, wie gut das tut: Der Einsatz für andere, die Mit- und Umwelt, bringt Erfüllung, Stolz, Zufriedenheit, soziale Kontakte, Anerkennung, manchmal auch Erfolge. Auch da könnten sich die UmweltschützerInnen noch stärker auf das Denken und Arbeiten der kirchlich Engagierten einlassen.
Eine stärkere Zusammenarbeit würde beiden Seiten nützen: Organisationen haben oft mehr Erfahrung bei der Durchführung von lautstarkem Protest, von politischer Lobbyarbeit und öffentlicher Wirksamkeit. Diese Erfahrung könnten die Kirchen nutzen, um für gesellschaftlich benachteiligte Menschen zu trommeln. Von den Kirchen könnten die Organisationen wiederum lernen, wie man Menschen dazu bringt, sich langfristig zu engagieren, und wie man im eigenen Tun einen tieferen Sinn findet. Um gemeinsam für ein besseres Leben auf der Erde zu kämpfen, muss man nicht einer Meinung sein darüber, ob es ein nächstes Leben gibt.
Das Zusammengehen von «Menschen guten Willens» zeigt sich schon in vielen Bereichen. Oft haben Menschen in Organisationen einen spirituellen Hintergrund. Die grossen Weltreligionen haben erkannt, dass Umweltzerstörung zu Armut führt und ihren Gläubigen das irdische Leben schwer macht – und dass die Zerstörung der Schöpfung auch aus theologischer Sicht eine Sünde darstellt, wie es Papst Franziskus 2015 in seiner berühmten Enzyklika «Laudato si’» ausführt. Wer als Christ den Menschen ernsthaft als Ebenbild Gottes begreift, kann sich mit Rassismus, Ausbeutung und Unterdrückung nicht abfinden. Die Kirchen haben in ihrer Geschichte immer Ordensgemeinschaften gegründet, um drängende Probleme zu lösen: das Elend von Kranken, den Hunger, die Unwissenheit. Nötig wären heute neue Gemeinschaften, die sich um die Umwelt, den Frieden, die Gerechtigkeit kümmern.
Anders als unser enger Blick auf Mitteleuropa nahelegt, verliert die Religion im weltweiten Massstab keineswegs an Einfluss. In Lateinamerika, Afrika, Osteuropa und den USA sind religiöse Gruppen stark im Aufwind. Das ist nicht immer eine gute Nachricht für eine bessere Welt. Militante Islamisten oder fundamentalistische Christen und Juden sind nicht nur eine Bedrohung für Peace, sondern auch für Green, sie streuen auch Konflikte und Gewalt, die vor allem den Schwächsten, den finanziell benachteiligten Menschen, den Kindern, den Tieren und den Pflanzen ihre Lebensgrundlagen rauben.
Um die Erde als Paradies zu erhalten, muss man nicht ans überirdische Paradies glauben. Es reicht schon, gemeinsam die Hölle auf Erden zu verhindern.
• In der Schweiz führt jede fünfte Person ab 15 Jahren eine unbezahlte Tätigkeit im Rahmen von Organisationen oder Institutionen aus. Das sind rund 1,4 Millionen Menschen (20 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung).
• Knapp 3 Prozent der Bevölkerung, also rund 200’000 Personen, engagieren sich in kirchlichen Institutionen und leisten dort Freiwilligenarbeit.
• Das geschätzte jährliche Arbeitsvolumen aller in kirchlichen Organisationen freiwillig Engagierten liegt bei 28 Millionen Stunden.Quellen: SAKE/SGG/BFS
Bernhard Pötter, 52, ist Umweltredaktor bei der «tageszeitung» (taz) in Berlin und freier Autor. Seine Schwerpunkte sind Energie, Klima und internationale Umweltpolitik. Pötter ging auf eine Jesuitenschule, genoss eine katholische Journalistenausbildung und ist praktizierender Katholik.