Es gibt genügend Gründe, pessimistisch zu sein: Hurrikane, Waldbrände, Überschwemmungen, Fisch- und Korallensterben, Mikroplastik und Anti­biotika in unseren Lebensmitteln. Die Temperaturen steigen von Jahr zu Jahr, und das Arktiseis bricht langsam auseinander. Wer ist da nicht versucht, den Kopf in den Sand zu stecken, es sich in seiner kleinen Wohlstandsblase gemütlich zu machen oder erst recht aufs Gas zu drücken?

Wir haben mit Menschen gesprochen, die sich für die Umwelt engagieren, gerade weil sie sich der enormen Herausforderungen bewusst sind, vor denen unsere Gesellschaften stehen. Ihre Motive und Methoden unterscheiden sich. Aber allen sind zwei Dinge gemein: Sie leben den Wandel, den sie in der Welt sehen wollen. Und sie inspirieren dadurch andere, es ihnen gleichzutun. Raphael Fellmer ist einer von ihnen.

Vom geldfreien Mülltaucher zum Social Entrepreneur

Als ich Raphael Fellmer Anfang September kontaktiere, steckt er gerade mitten in der Eröffnung seines ersten Lebensmittelgeschäfts in Berlin-Charlottenburg. SirPlus heisst es und soll Foodsharing in den Mainstream überführen. Das soziale Unternehmen rettet Lebensmittel, die normalerweise in der Mülltonne landen: einwandfreie Produkte, die entweder kurz vor dem Verfalldatum stehen oder bereits darüber sind. Fellmer und sein Team holen sie bei Lebensmittel-Grossmärkten, Händlern oder Produzenten ab und bezahlen den Unternehmen dafür ein kleines Entgelt. Die Partner ersparen sich die Kosten für die Vernichtung der überschüssigen Lebensmittel und polieren erst noch ihr Image auf. Die Kunden wiederum, die im Geschäft von SirPlus einkaufen, erhalten die ausgemusterten Tomaten, Müesli und Fruchtsäfte 30 bis 70 Prozent günstiger als in konventionellen Geschäften.

Mit Geldstreik gegen die Verschwendung

Fellmers medienwirksames Engagement gegen die Ressourcenverschwendung und für alternative Lebenskonzepte begann 2010: Nach dem Uniabschluss seiner Europastudien trampte er ohne einen Euro in der Tasche von Holland nach Mexiko. Was als Experiment begann, wurde zum Lebensprojekt. Auf einem Segelboot, auf dem er angeheuert hatte, entschied er sich mitten im Atlantischen Ozean, von nun an ohne Geld zu leben. «Während der Uno-Klimakonferenz, die in jenem Jahr in Cancún tagte, realisierte ich, dass wir den Wandel leben müssen, den wir in der Welt sehen möchten», erinnert er sich. «Wir haben keine Zeit, auf die Politik zu warten.» Fellmer sah seinen Geldstreik fortan als politisches Statement und gelebten Wandel. Gleichzeitig wuchs in Mexiko sein Bewusstsein und sein Unverständnis, dass Millionen von Menschen hungern, während täglich Tonnen von überschüssigen Lebensmitteln vernichtet werden.

Zurück in Berlin fand Fellmer mit seiner Frau und der neugeborenen Tochter kostenfrei Unterschlupf. Dort erlebte er den Überfluss wieder hautnah. Täglich besorgte er sich Lebensmittel und Gebrauchsgüter des Alltags aus den Mülltonnen der umliegenden Supermärkte – illegal. Fellmer und seine Familie lebten gut vom «Abfall», der in ihrer Umgebung täglich produziert wurde. Im März 2012 initiierte er die Lebensmittelretten-Bewegung. Gleichgesinnte retteten nun legal Lebensmittel von kooperierenden Supermärkten, Bäckereien und Restaurants und verteilten sie kostenlos. 2014 fusionierte das Netzwerk mit der webbasierten Plattform foodsharing.de.

Teil der Lösung werden

Heute hat foodsharing.de über 300 000 Nutzerinnen und Nutzer sowie 30 000 sogenannte «Foodsavers», die regelmässig bei über 3300 Kooperationsbetrieben Lebensmittel retten und verteilen. «Viele sahen in unserem Projekt eine Möglichkeit, mit ihrer eigenen Motivation anzudocken und selbst etwas gegen Verschwendung und Umweltverschmutzung zu tun», erklärt Fellmer den Erfolg von foodsharing.de. «Viele erkannten, dass die Liebe zu Lebensmitteln auch die Liebe zur Erde ist: zum eingesetzten Wasser, zur benötigten Energie und zur geleisteten Arbeit.»

Fellmer schrieb ein Buch über seinen Geldstreik und die Lebensmittelretten-Bewegung.
Er trat in Talkshows auf und sprach vor Schulklassen. Im Sommer 2015 nahm er zum ersten Mal wieder Geld an. Er sah sich gezwungen, sich von seinem «Dogma und Privatgefängnis», wie er es heute nennt, zu lösen. Er hatte nun zwei Kinder und musste in Berlin eine neue Bleibe für seine Familie finden. Heute ist er überzeugt, dass Geld ein Vehikel für positiven Wandel sein kann und den Wirkungsgrad seines Engagements erhöhen wird. «Eigentlich war ich schon immer Unternehmer», sinniert der 34-Jährige über seinen Wandel vom Geldverweigerer zum Geschäftsmann. Sein Antrieb sei derselbe geblieben: «Mit anderen Menschen zusammen Ideen verwirklichen zu dürfen, welche die Welt ein Stück besser machen, ist sehr befriedigend.»

Zum Fliegen kam die Idee eines Geschäfts für gerettete Lebensmittel in Berlin dank eines Darlehens von 100 000 Euro und einer Crowdfunding-Kampagne. 1700 Menschen spendeten 90 000 Euro. «Crowdfunding ist ein tolles Inst­rument, um eine Idee über Medien und soziale Netzwerke bekannt zu machen und zu schauen, ob sie ankommt.» Der Zeitaufwand sei jedoch nicht zu unterschätzen, sagt er. Allein das Präsentationsvideo habe über zwei Monate in Anspruch genommen. Fellmer schwebt für die Zukunft eine Lebenmittelretten-Franchisingkette vor, mit Geschäften in ganz Deutschland, in Österreich und der Schweiz. Eine Art McDonald’s für gerettete Lebensmittel also? «Wir machen das für die Sache», erklärt Fellmer. «Wir haben die Marke, die Prozesse, ein Bündel von Erfahrungen und Kontakten. Die stellen wir Interessierten zur Verfügung und schaffen damit eine Basis, damit Lebensmittelretten zum Mainstream wird.»

In der nächsten Folge der Walk the Talk! Serie erwartet Sie ein Porträt über Franziska Herren: Vom Fitnessstudio ins Bundeshaus.