Artivismus ist die Symbiose aus Kunst und Aktivismus und fördert das Bewusstsein für Umweltzerstörung und Klimawandel, insbesondere wenn die Kunst von Menschen kommt, die von deren Auswirkungen schon heute betroffen sind.
Tanz/Musical: Marrugeku (Australien)
Eine Gaspipeline, Wirbelstürme, kahle Landschaften, Hitze. Die Bühnenkulissen, vor denen die Tanzgruppe Marrugeku auftritt, senden eine klare Botschaft: Die lange vorhergesagten Katastrophen sind eingetreten, der Klimawandel hat die Vegetation in ihrer Heimat ausgelöscht. Heute ist Kimberley im Nordwesten Australiens noch ein Ort von surrealer Schönheit. Orangefarbene Erde ziert seine Oberfläche, darauf wachsen Eukalyptus- und Akazienbüsche, an der Küste Mangroven. Doch unter dieser Oberfläche liegt der Grund, weshalb die Schönheit gefährdet ist: Mitsubishi möchte hier durch Fracking Erdgas fördern und über eine Pipeline in der Region und bis zur Ostküste verteilen.
Die Unvereinbarkeit von Profitstreben, Umwelt- und Klimaschutz führte hier bereits häufiger zu Konflikten zwischen Einwohnern, Aktivisten und Rohstoffkonzernen. Marrugeku erzählt diese Geschichten von zivilem Protest und der vom Staat unterstützten Umweltzerstörung. Die Gruppe besteht zur Hälfte aus australischen Ureinwohnern. Mit ihrem Programm «Cut the Sky» ist sie 2015 um die halbe Welt getourt. Die Fracking-Pläne und das Pipeline-Projekt sind seither aufgeschoben. Regionalregierung und Kommunen stellen sich bislang erfolgreich quer.
Dalisa Pigram, Mitgründerin, Choreographin und Tänzerin von Marrugeku, erläutert, dass die Diskussion um den Klimawandel von Menschen dominiert wird, die logisch und wissenschaftlich denken. Die Künstler hingegen wollen die Herzen der Zuschauer erreichen.
Der Titel «Cut the Sky» steht für die Fähigkeit der Aboriginal-Ältesten, bei wichtigen Zeremonien das Wetter günstig zu beeinflussen. Videoprojektionen und Bühnenkulissen zeichnen dem Zuschauer eine düstere Zukunft von ausgetrockneten Landschaften und verheerenden Naturkatastrophen. Ein Gefühl von Fatalismus und Machtlosigkeit macht sich im Publikum breit. Doch am Ende die überraschende Wendung: Es fällt Regen, die Tänzer wälzen sich in der nassen Erde – die Ureinwohner triumphieren dank des Zaubers ihrer Ältesten: «Cut the sky».
Marrugeku sind «Artivisten» – also Künstler und Aktivisten zugleich. Unter den indigenen Völkern der Welt gibt es zunehmend Aktivisten, die den Problemen, mit denen sie konfrontiert sind, künstlerisch begegnen. Sie versuchen so, auf Missstände aufmerksam zu machen, nicht nur sachlich, sondern vor allem emotional. Die meisten Menschen in Industriestaaten spüren im Vergleich zu indigenen Völkern bisher nur sehr wenig von den Auswirkungen ihrer Lebensweise auf Umwelt und Klima. Durch die Kunst versuchen die Artivisten Bewusstsein zu schaffen. Sie tanzen, singen, rappen und spielen Theater gegen den Klimawandel.
Theater/Rapperin: Allison Warden (Alaska)
Allison Warden, 45, eine Iñupiat-Inuit aus Anchorage, Alaska, führt in ihrem Soloprogramm «Calling all Polar Bears» etwa vor, was ein Eisbär zu den Veränderungen seines Lebensraumes sagen würde, wenn er könnte. Oder wie eine kleine indigene Gemeinschaft gegen einen multinationalen Konzern kämpft, der die Ressourcen auf ihrem Gebiet ausbeuten will. Ihre Aufführungen sind mal humorvoll, mal traurig und fesselnd. Sie sollen den Zuschauer nicht nur unterhalten, sondern auch zur kritischen Reflexion und im besten Fall zur Teilnahme am Kampf für indigene Selbstbestimmung und den Erhalt traditioneller Lebensweisen anregen.
Allison Wardens Wurzeln gehen nach Kaktovik an der Nordküste Alaskas zurück. Das überwiegend von Iñupiat bewohnte Dorf befindet sich in ständigem Protest gegen Politiker und Ölfirmen, die entlang der arktischen Küsten bohren wollen. Mit Präsident Trump im Rücken haben die alaskischen Republikaner im November einen Teilerfolg erlangt. Nach jahrzehntelangem Disput soll ein Teil des Naturschutzgebiets rund um Kaktovik für Bohrungen geöffnet werden.
Neben ihrem Kerngebiet Theater tritt Warden ausserdem als «Aku-Matu» auf, eine indigene Rapperin, die in der Sprache der Iñupiat auf traditionelle Klänge reimt. Sie richtet sich an junge Indigene, deren Potenziale und Stimmen sie entfalten möchte. Ihre Auftritte führten sie bis nach London und Berlin. Aktuell arbeitet sie mit einem ebenfalls indigenen Produzenten an einem neuen Rap-Album.
Rapper: Frank Waln (USA, Süd-Dakota)
Rappen ist auch Frank Walns Ventil, um Probleme zu thematisieren, die ihn als Sicangu-Lakota beschäftigen. Er kommt aus einem Reservat in South Dakota. «In einem Reservat aufzuwachsen ist hart. Eine farbige Person in den USA zu sein ist hart. Und in einem Land zu leben, das auf dem Genozid meines Volkes gebaut wurde, ist hart.» Waln appelliert vor allem an die jungen Native Americans, ihre Wurzeln nicht zu verleugnen. Neben starken Botschaften überzeugt er auch musikalisch. Über 300 000 Zugriffe verzeichnen Walns erfolgreichste Songs. Er gibt mit seiner Musik vielen jungen Indigenen Selbstvertrauen und Hoffnung für ein integeres Leben in den von Weissen dominierten Vereinigten Staaten.
Immer wieder betont er, dass die heutigen USA ein Siedlerstaat sind, der sein Territorium durch den Genozid an den Ureinwohnern erlangt hat. «An dieser Feststellung ist nichts Rebellisches. Ich spreche lediglich Tatsachen an, die jedem bekannt sind.» Er wirft die Frage auf, was es über die US-amerikanische Gesellschaft aussagt, dass jemand, der diese Wahrheit ausspricht, als Rebell gilt. Seine Lieder behandeln die bis heute andauernde Verschmutzung und Vernichtung indigener Lebensräume in den USA. So rappt er etwa in «Oil 4 Blood» gegen den Bau der Keystone-XL-Pipeline. Obama hatte das umstrittene Projekt 2015 gestoppt, Trump genehmigte im März 2017 den Weiterbau. Die Pipeline gefährdet die Wasserversorgung ganzer Regionen, unter anderem die von Walns Heimat-Reservat.
Sängerin: Sara Marielle Gaup Beaska (Norwegen)
Die Sängerin Sara Marielle Gaup Beaska komponierte eigens für die Weltklimakonferenz 2015 in Paris einen «Joik». Joik ist die Bezeichnung für den traditionellen Gesang der Samen, deren Heimat sich vom hohen Norden Norwegens und Schwedens über Finnland bis in den Nordwesten Russlands erstreckt. Beaskas Joik trägt den Titel «Gulahallat Eatnamiin», das bedeutet so viel wie «Wir sprechen Erde». Der Titel soll ausdrücken, dass der Mensch, obgleich weitgehend von der Natur entfremdet, noch immer unzertrennlich mit der Erde in Verbindung steht und von ihr abhängt. Wie die meisten Joiks kommt «Gulahallat Eatnamiin» ohne Text aus und besteht aus gefühl- und kraftvoll gesungenen Lauten. Im Vorlauf der Konferenz in Paris animierte Beaska über die sozialen Medien Menschen dazu, ihren Joik zu singen, sich dabei zu filmen und ihn im Internet zu teilen.
Tanz: Dancing Earth (Nord- bis Südamerika)
Auch die Tanzgruppe Dancing Earth möchte durch ihre Aufführungen Umweltbewusstsein fördern. Sie lebt dieses auch gleich vor: Kostüme und Kulissen bestehen vollständig aus recycelten und organischen Materialien. Die TänzerInnen stammen aus verschiedenen indigenen Völkern Nord-, Mittel- und Südamerikas, wie den Hopi, Shoshone, Métis oder Maya.
Sie treten vor regionalem, nationalem und internationalem Publikum auf, etwa bei Festivals, in Universitäten und Kunstmuseen oder auf Konferenzen zu Umweltgerechtigkeit. Mit ihrer Arbeit möchten sie ihre uralten kulturellen Wurzeln wiederbeleben und indigene Perspektiven in die heutige Welt einfliessen lassen. «In unseren Auftritten geht es um die Wertschätzung von Wasser, Samen, Pflanzen und Lebensmitteln.» Künstlerische und kulturelle Rituale der verschiedenen indigenen Völker von Nord- bis Südamerika werden so vermischt, dass eine abwechslungsreiche Kombination aus traditionellen Tänzen und neuartigen Choreographien entsteht.
Rulan Tangen ist die Gründerin, Choreographin und Fronttänzerin der Gruppe. Die Signatur ihrer E-Mails lässt keinen Zweifel an ihrer Haltung: Der Sitz ihrer Tanzgruppe wird angegeben als «Ogaa Po’ogeh – das besetzte Tewa-Territorium, auch bekannt als Santa Fe, New Mexico, und Yelamu – das besetzte Ohlone-Territorium, auch bekannt als San Francisco, Kalifornien».
Mit diesen unterschiedlichen Kunstformen wollen indigene Artivisten das Bewusstsein ihres Publikums verändern und damit den Druck auf die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft erhöhen. Können sie sich über die Kunst endlich mehr Gehör verschaffen? Amy Westervelt vom Sierra Club, der ältesten und grössten Umweltschutzorganisation der USA, sieht grosses Potenzial: «Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass die umweltpolitische Kunst in den kommenden Jahrzehnten einen ähnlich starken Einfluss haben wird, wie ihn die soziale und politische Kunst in der Vergangenheit hatte.»
Emil Minar ist freier Journalist. Er schreibt über soziale Gerechtigkeit, Migration und internationale Politik. Erstveröffentlichung des Artikels bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Deutschland.