Die brasilianische Fotografin Marizilda Cruppe hat mit dem multimedialen Projekt «Leben und Sterben für den Regenwald» den Publikumspreis des Greenpeace Photo Award 2016 gewonnen. An Bord der Rainbow Warrior erzählt sie, was sie bewegt.

Es ist nicht einfach, Marizilda zu treffen. Sie sei eine Fotoaktivistin im permanenten Nomadenmodus, sagt sie. Als Beweis fotografiere sie die Betten und Hängematten, in denen sie schläft. Einhundertfünf seien es, seitdem sie 2015 ihre Wohnung in Rio de Janeiro aufgegeben hat. «Ich gehe jetzt dahin, wohin die Fotografie mich führt.»

Derzeit ist das der Amazonaswald, das grösste zusammenhängende Regenwald­gebiet der Erde. Zwei Drittel davon gehören zu Brasilien. Das Naturparadies ist bedroht durch illegale Abholzung und das vordringende Agrobusiness. Marizilda erzählt von den Frauen, die mutig gegen die Zerstörung kämpfen.

Es ist Anfang Mai und sie ist zu Besuch in Rio, der Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Sie steht auf der Rainbow Warrior, die für eine Woche hier vor Anker gegangen ist. Auf ihr hat sie bereits actionreiche Tage erlebt. Zum Beispiel 2012, als Greenpeace in Nordostbrasilien die Verschiffung von im Amazonas produziertem Roheisen blockierte. «Man kann mich auch als autodidaktische Action-Fotografin bezeichnen.» Sie lacht.

Das Nomadenleben habe so seine Tücken, erzählt Marizilda. Sie sei gerade in einem Nutzreservat am Rio Uatumã, tief in den Wäldern Amazoniens, unterwegs gewesen, als sie vom Greenpeace Photo Award gehört habe. Eilig schnitt sie auf dem Laptop einen kleinen Clip. Doch dann wurde ihr klar, dass es weit und breit keine Internetverbindung gibt, um das Video zu verschicken. Schliesslich nahm es ein Bekannter auf einem Pen-Drive mit auf die Reise nach Südbrasilien. Dass «klassische Dokumentar-Narrative ohne viel ästhetisches Drum­herum» überhaupt Chancen hätten, glaubte sie nicht. Immerhin würden so die Frauen gehört werden, dachte sie. Manchmal vergesse sie fast, dass sie «nur» die Fotografin sei und keine Campaignerin.

Mit ihren Fotos, Videos und Tonaufnahmen will Marizilda Frauen an unterschiedlichen Punkten ihres Kampfes zeigen. Ganz normale Frauen, die das Leben auf eine Mission geschickt hat, wie Dilva Araújo, die bis vor drei Jahren ein beschauliches Familienleben am Rio Jari führte, einem Zufluss des Amazonas. Dann bedrohte eine Zellulosefabrik die Zukunft ihres Dorfes. Und 107 anderer in der Umgebung. «Es war eine radikale Verwandlung», beobachtete Marizilda. «Dilva war plötzlich aufgewacht mit einer Mis­sion.» Seitdem kämpft sie dafür, dass die Regierung das Gebiet in ein Nutzreservat (Resex) umwandelt, das von den lokalen Gemeinschaften nachhaltig bewirtschaftet wird.

Rosa Maria Viegas, genannt Rosinha, ist da schon weiter. Vor 15 Jahren drangen Holzhändler in ihre Region in Zentral-Pará vor. Doch die Dörfer organisierten Widerstand. Nach sieben Jahren Kampf wurde 2009 das Resex Renascer gegründet, «Wiedergeburt» auf Portugiesisch. Doch Frieden gab es für Rosinha nicht. Lokalpolitiker veruntreuten die für das Resex bestimmten Regierungsgelder und Rosinha prangerte die Missstände an.

Erst habe es Verleumdungen gegeben, gezielt gestreute Gerüchte über ihr Privat- und Intimleben. «Man versucht, diese Frauen lebendig zu begraben, indem man ihre sozialen Kontakte zerstört.» Irgendwann kamen dann die Morddrohungen. Die Regierung im fernen Bra­sília nahm Rosinha in ein Personenschutzprogramm für bedrohte Aktivisten auf. «Doch in Wahrheit ist sie ohne Schutz, denn die Polizisten, die sie beschützen sollen, machen mit den Lokal­politikern gemeinsame Sache.»

Brasilien – das Land mit den meisten ermordeten Umweltaktivisten

Allein 2015 gab es 50 Tote und Hunderte leben weiter mit der ständigen Bedrohung. Im Mai 2011 wurde das Aktivistenpaar José Claudio Ribeiro da Silva und Maria do Espírito Santo ermordet. Sie hatten Holzhändler angezeigt, die illegal auf das Gebiet des Resex Praialta-Piranheira in Nova Ipixuna im Südosten von Pará vorgedrungen waren. Bis heute kämpfen Claudelice Santos, die Schwester von José Claudio, und Marias Schwester Laísa Santos Sampaio dafür, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

«Wenn sich der Todestag der beiden nähert, geht es Laísa schlecht», sagt Marizilda. Während des ersten Gerichtsprozesses erlitt sie einen Schlaganfall, lag einen Monat im Koma. Danach musste sie alles von Grund auf neu lernen – Bewegen, Reden, Lesen, Schreiben. «Doch sie hat sich zurück ins Leben gekämpft.»

Laísa blieb trotz allem im Resex, während Claudelice mit ihren zwei Töchtern in die nahe Grossstadt Marabá zog. Dort studiert sie in einem eigens für Personen aus kleinbäuerlichen Familien und Sozialbewegungen eingerichte­ten Jurakurs Direito a terra (Landrecht). «Sie machen viel Druck», sagt Marizilda. Der Gruppe gelang es, den Prozess von Marabá in die Regionalhauptstadt Belém verlegen zu lassen. Dort kam es zwar zu einer Verurteilung, doch die Mörder sind weiterhin auf der Flucht.

Für die Frauen geht das Leben weiter – und ihr Kampf. «Sie wollen endlich diesen ewigen Kreislauf aus Unrecht und Gewalt durchbrechen. Verliert man eine geliebte Person unter solchen Umständen, geht die Trauer niemals vorbei.» Sie bräuchten einen Schlusspunkt, und zwar einen gerechten.

Zuerst habe sie Bedenken gehabt, die Frauen ins Rampenlicht zu ziehen, sie noch angreifbarer zu machen. «Doch alle wollten, dass ihre Geschichte erzählt wird.» Sie hoffen auf internationalen Druck auf die untätige Regierung. Doch es sei nicht nur die Regierung, die Frauen erführen auch Widerstand innerhalb ihrer Dorfgemeinschaften, ja sogar in ihren Familien. «Dort werden sie meist mit ihrem politischen Kampf alleingelassen.»

Bei ihren Besuchen komme sie oft kaum dazu, Fotos zu machen. Denn die Frauen wollten erst einmal erzählen. Marizilda hört dann Geschichten von familiärer Isolation, von Frust und von Machos, die nicht akzeptierten, dass Frauen engagiert das Wort ergreifen. Machos, die selber beim ersten Widerstand aufgeben, weil sie glauben, keine Chance zu haben gegen die Übermächtigen. Frauen seien da zäher, sagt Marizilda. Ein Grund mehr für sie, an ihrer Seite zu sein. «Diese Frauen stehen an vor­derster Front. Aber wer da nicht hingeht, sieht sie nicht.»

Im toten Winkel der Regenbogenpresse

Selbst ihre sonst gut informierten Freunde in Rio hätten früher nichts von der Existenz dieser Frauen gewusst. Die Medien interessiere so etwas kaum, weiss Marizilda aus erster Hand. Sechzehn Jahre war es ihr Job, für eine Tageszeitung in Rio die High Society abzulichten, «jene zwei Prozent, die eigentlich nicht wirklich in diesem Land leben». Dagegen setzte sie eigene Ideen. «Ich mag Geschichten, die ‹under­reported› sind, Geschichten von Menschen, über die sonst niemand redet.»

Für die Zeitung fotografierte sie Migranten aus dem armen Nordosten auf ihrem Weg in die Favelas von Rio de Janeiro, schwangere Obdachlose und Tuberkulosekranke in Rios Slums sowie Opfer von Landminen in Kolumbien. Doch stets blieb das Gefühl, dass die Geschichten ihre Vorgesetzten und die Leser nicht wirklich interessierten. «Die Reichen in Rio essen Paranüsse, weil ihr Arzt sagt, dass das gesund sei. Wo die Nüsse herkommen, ob an ihnen das Blut von Kleinbauern klebt, interessiert sie nicht. Und in den Bars sitzen die Intellektuellen, die die Welt verändern wollen, aber nichts dafür tun.» In Brasiliens Grossstädten herrsche «null Empathie». Sie spürte, dass es an der Zeit war, ihre Sachen zu packen.

Ein Esel trägt Taschen voller frisch geernteter Kastanien. Die Erntehelfer marschieren dahin, wo die Kastanienbäume wachsen, und ernten sie von Hand.

In Dilvas Kindheit am Jari-Fluss sei die Paranuss-Ernte stets etwas Besonderes gewesen. Jeder im Dorf hatte ein paar Bäume, Grundstücksgrenzen gab es nicht und man erntete gemeinsam. Dieses Jahr sei dort nun erstmals jemand ermordet worden, weil er ein fremdes Waldstück betrat, sagt Marizilda: «Die Zeiten werden rauer.»

Die Frauen seien sich bewusst, dass ihr Kampf wahrscheinlich ewig dauern wird, dass sie kämpfend sterben werden. «Aber gäbe es diese Frauen nicht, wer würde auf die Situation Amazoniens aufmerksam machen? Auf die Zerstörung des Waldes, der mit den Verstössen gegen die Menschenrechte der lokalen Bewohner einhergeht?» Nur wo Aktivisten sich für die Einrichtung von Nutzreservaten, Naturschutz­gebieten und indigenen Territorien einsetzten, gebe es heute noch intakte Wälder.

Die Regierungen hätten versagt, egal ob der linke Partido dos Trabalhadores (PT) oder die derzeitige konservative Regierung, unter der die traditionellen Gemeinschaften Amazoniens unter noch stärkerem Druck des Agrobusiness stünden. «Wenn diese Frauen nicht Lärm machen, wer sonst?

Winterregen am Uruará-Fluss. Es gibt keinen öffentlichen Verkehr zwischen Santa Maria und der Gemeinde von Santarém. Das beste Transportmittel sind die Schiffe, die für die Fahrt durch die Flüsse des Amazonasbeckens bis nach Santarém ungefähr 15 Stunden brauchen.

Marizilda Cruppe (1968) wurde in São Paulo, Brasilien, geboren. Sie war lange Zeit fest angestellte Fotografin bei der Zeitung «O Globo», einer bedeutenden Zeitung in Brasi­lien. Seit 2011 ist sie unabhängig und arbeitet für humanitäre und umweltpolitische Organisationen, die ihren Fokus auf Geschichten über soziale Ungleichheit, Menschenrechte und Genderan­liegen legen. Zweimal war sie Jurymitglied beim World Press Photo Award und gründete im Jahr 2016 die YVY Women Image Makers, eine Bewegung, die Frauen aus ganz Brasilien zusammenbringt und in der Sprache der Tupi, einer der grössten Ethnien Brasiliens, Land heisst.

Der deutsche Politikwissenschaftler und Historiker Thomas Milz berichtet seit fünfzehn Jahren als Journalist und Fotograf aus Südamerika. Derzeit arbeitet er mit Sitz Rio de Janeiro für die Katholische Nachrichtenagentur und den ARD-Hörfunk. Seine Arbeit als Fotograf umfasst Publikationen im «Spiegel», in der FAZ und im «Handelsblatt». In der Schweiz publizierte er in der NZZ und den Magazinen «Doppelpunkt» und «Sonntag». Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die brasilianische Amazonasregion.