Angesichts von Klimawandel und Armutskrise engagieren sich immer mehr Religionsgemeinschaften für den Umweltschutz. Das grüne Gewissen der Gläubigen könnte viel verändern. Aber manchmal scheitern sie an ganz irdischen Zwängen.

Der hinduistische Tempel Amarnath liegt in einer Berghöhle auf 3882 Metern über Meer im indischen Kaschmir. In ihm formt sich regelmässig im Juli und August eine meterhohe Tropfsteinfigur aus Eis, die von den Gläubigen als Statue des Gottes Shiva verehrt wird. Hunderttausende Hindus machen sich jeden Sommer auf den tagelangen Aufstieg zum Heiligtum Amarnath. Doch in den letzten Jahren ist die Pilgerzeit kürzer geworden: Der Eisgott schmilzt immer früher. Grund: Zu viele Touristen – und der Klimawandel.  Amarnath hat der Debatte um den Klimaschutz in Indien eine neue Dimension gegeben: Plötzlich geht es nicht mehr nur um Kohle und CO2, sondern auch um Glauben und Religion. Premierminister Narendra Modi begründet seine ehrgeizigen Solarpläne auch mit Yoga-Weisheiten – und liegt damit im Trend. ❧ Für 80 Prozent der Erdbewohner ist die Religion ein natürlicher Teil ihrer Umwelt. Doch sie müssen mitansehen, wie die globale Umweltkrise zunehmend auch religiöse Heiligtümer bedroht. Kathedralen und Moscheen bröckeln unter ätzender Luft, heilige Wälder sind von Abholzung und Schadstoffen bedroht, verehrte Wasserläufe werden verseucht und ganze Kulturlandschaften wie Venedig vom steigenden Meeresspiegel attackiert. Menschen in aller Welt leiden unter Dürren, Luftverschmutzung, fehlendem Wasser und Wüstenbildung.

Alliierte im Kampf für die Umwelt

«In allen Religionen sind über die letzten Jahre die Anstrengungen deutlich gewachsen, Aktivitäten zu Gunsten des ökologischen Wandels zu unterstützen», erklärt Mary Evelyn Tucker, die an der Yale-Universität in den USA Forstwirtschaft und Religionswissenschaft lehrt und das Forum für Ökologie und Religion leitet. Sie kennt viele Beispiele, wo Religion und Umweltschutz zusammenwachsen: Christen, Juden und Muslime renaturieren beispielsweise gemeinsam den Jordan in Israel oder buddhistische Mönche erklären Bäume in Thailand für heilig, um sie vor dem Abholzen zu schützen. «In China gibt es Bestrebungen für eine ‹ökologische Zivilisation›, die sich auf die Traditionen des Konfuzianismus, des Buddhismus und des Taoismus beruft», so die Forscherin. Der ehemalige Greenpeace-Chef Kumi Naidoo erklärte bereits 2012 religiöse Gruppen zu Alliierten im Kampf für die Umwelt.  In den christlichen Kirchen etwa sind die Orthodoxen für ihr jahrelanges Engagement zur Rettung von Gewässern bekannt. Viele protestantische Gemeinden und Kirchen setzen sich seit Jahrzehnten für dezentrale Energieversorgung und gerechten Welthandel ein (fairer Kaffee). Gemeinschaften wie die Quäker in den USA treiben seit Jahrzehnten das ethische Investment voran, indem sie keine Geldanlagen zulassen, die Menschen oder der Natur schaden. Die Hilfswerke Misereor, Brot für die Welt und zunehmend auch Islamic Relief kritisieren seit Jahren, dass ihre Erfolge bei der Armutsbekämpfung durch Umweltzerstörung zunichtegemacht werden. Nun engagieren sie sich etwa in Deutschland in der breiten «Klima-Allianz» mit etwa 100 Umwelt- und Entwicklungsgruppen für einen echten Schutz von Mensch und Natur.

Der Papst fordert einen Kurswechsel

Ihren deutlichsten Ausdruck findet die neue grü­ne Aufklärung in der katholischen Enzyklika «Laudato si’» vom Sommer 2015. Darin fordert Papst Franziskus ein theologisches Umdenken und einen ökologischen Kurswechsel nicht nur von seinen 1,2 Milliarden Katholiken. Er warnt, dass die jetzige Generation als «die verantwortungslose­s­­te in die Geschichte eingehen werde», wenn sie beim Klimaschutz versage.  Der Papst räumte auch mit der jahrhundertealten Bibelauslegung auf, die Christen sollten sich «die Erde untertan» machen. Es gehe im Gegenteil darum, sie als Gottes Geschenk zu bewahren. Seiner Kirche verordnete Franziskus entgegen ihrer jahrhundertealten Tradition einen offenen Dialog mit der Wissenschaft. Und er wagte sich weit vor in die Debatte von Politikern und Juristen um die «Global Commons»: Ohne den Schutz von globalen Gemeingütern wie der Atmosphäre, den Ozeanen oder den Wäldern werde es keine gerechte Wirtschaft geben.  Franziskus stellt das globale Wirtschaftssystem in Frage», konstatiert Ottmar Edenhofer, Ökonom am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der den Papst bei der Enzyklika beraten hat: «Aus seiner Sicht erschüttern Klimawandel, die globale Armut und Ungleichheit die Fundamente des globalen Zusammenlebens.»  Der Papst beliess es nicht bei diesem Rundschreiben. Vor den entscheidenden UN-Gipfeln zu Entwicklung und Klimawandel, die 2015 in New York und in Paris stattfanden, setzte er die römisch-katholische Diplomatie in Gang. Zwei Jahre lang wurden Wissenschaftler, Umweltaktivisten und Politiker vom Vatikan zu Gesprächen nach Rom eingeladen.  Katholische Länder, die sich der UN-Klimapolitik in den Weg stellten, wie Polen und Nicaragua, wurden von päpstlichen Gesandten bis in die entscheidende letzte Nacht gedrängt, das Abkommen nicht zu behindern. Ausgerechnet die Vertreterin des sozialistischen Venezuela, Claudia Salerno, lobte im Plenum von Paris den argentinischen Papst für seine Rolle in den Verhandlungen. Und Christoph Bals, Chef der Entwicklungsorganisation Germanwatch, resümierte, neben der Einigung mit den USA und China, der aktiven Rolle der Entwicklungsländer und dem Druck der Finanzwelt seien «die Enzyklika und der Druck der Religionen einer der Hauptfaktoren für den Erfolg gewesen».

Christen beteten für den Klimagipfel

«Paris ist eine Messe wert.» Der Slogan des Königs Heinrich IV., der sich 1593 zum Katholizismus bekannte, um König von Frankreich zu werden, hatte 2015 eine andere Bedeutung: Rund um die 21. UN Klimakonferenz zeigten auch die Weltreligionen, wie sehr ihnen die Rettung der Schöpfung am Herzen liegt.  So pilgerten Hunderte von Christinnen und Christen wochenlang nach Paris, um für ein Gelingen des Gipfels zu beten. Der Weltkongress der Lutheraner rief seine Mitglieder auf, ihr Geld aus der Kohle- und Ölindustrie abzuziehen. Bei der Klima-Vorkonferenz im Oktober in Bonn forderten 154 Führer aller Weltreligionen ein «Ende der fossilen Energien und null CO2-Emissionen»: Das Spektrum reichte vom christlichen Weltkongress der Kirchen über Muslime, Juden, Hindus und Buddhisten bis hin zu Vertretern indigener Religionen.  Grossen Einfluss hatte auch die «Islamische Erklärung» von muslimischen Geistlichen im August 2015. «Es ist unsere Verantwortung als Muslime, zu handeln», schrieben etwa 30 islamische Würdenträger. Sie forderten «die wohlhabenden und die Ölstaaten» auf, fossile Brennstoffe auslaufen zu lassen, armen Ländern zu helfen, erneuerbare Energien zu fördern und ihre Konsummuster zu ändern. Zwei prominente Köpfe aus dem Organisationskreis sassen auch in Paris an entscheidenden Stellen: Saleemul Huq, Veteran der Klimakonferenzen aus Bangladesch und Kämpfer für die Rechte der ärmsten Länder, sowie Wael Hmaidan, Chef von CAN, dem Climate Action Network als Dachverband der Umweltverbände.  Hmaidan sagte, aus der dezentralen islamischen Welt habe es «sehr zustimmenden Input gegeben», der auf der Vorarbeit von ökologischen Gruppen im Islam basiere, etwa Green Faith oder Green Muslim – nicht umsonst sei Grün die Farbe des Propheten Mohammed. Und der Oberste Imam von Indonesien erreiche im grössten islamischen Land der Welt die Menschen direkt. Auch in Marokko, wo ein Jahr nach Paris die nächste Klimakonferenz gastierte, hatte der König das Programm der «grünen Moscheen» ausgerufen, bei dem es darum geht, Solaranlagen auf den Dächern zu bauen und die Gläubigen zu ökologischem Verhalten zu ermahnen.

Auch die islamische Religion will in Zukunft mehr für die Umwelt machen. Im Namen des Barmherzigen, Kalligrafie in Form eines Wiedehopfes, Iran, 17./18. Jh.

Immenses Potenzial

Die drei Weltreligionen Christentum, Islam und Judentum berufen sich für den Umweltschutz auf die Bibel und den Koran: Die Erde sei Gottes Schöpfung und dürfe von den Menschen nicht zerstört werden. Andere Religionen wie der Konfuzianismus streben nach Harmonie, die sich in einer intakten Natur ausdrückt, verlangen nach einem absoluten Respekt für alles Lebendige wie der Buddhismus oder sehen in Pflanzen und Tieren ihre Ahnen und Götter wie viele Natur­religionen.  Die biblischen Geschichten zur Sorge um die Armen sind mit den «Nachhaltigen Entwicklungszielen» der Vereinten Nationen gut zu verbinden. Die insgesamt 17 Ziele formulieren den Kampf gegen Armut und Hunger sowie das Recht auf intakte Umwelt, Gesundheit, Bildung und Sicherheit. Es war kein Zufall, dass Papst Franziskus im September 2015 die UN-Generalversammlung eröffnete, die diese Sustainable Development Goals (SDG) beschloss.  Das Potenzial für eine nachhaltige Entwicklung durch die Religionsgemeinschaften sei immens, hatte eine Untersuchung des Worldwatch Institute in Washington schon 2010 ergeben. Der grösste Beitrag der Gläubigen wäre es, «ihr eigenes, uraltes Wissen über den Materialismus ernst zu nehmen». Faktoren wie die Zufriedenheit aus Beziehungen statt aus dem Besitz von Dingen oder die Besinnung auf einfachere Lebensformen könnten höher geschätzt werden. «Die Konsumkritik, die eigentliche Stärke vieler Religionen, wird derzeit noch vernachlässigt», heisst es.

Blinde Flecken

Das grüne Gewissen der Gläubigen ist noch nicht alt. Vor allem die christlichen Lehren haben der Naturzerstörung lange einen Heiligenschein verliehen: Das biblische Gebot «Macht euch die Erde untertan» führte dazu, dass die Menschen sich als «Krone der Schöpfung» betrachteten und sie rücksichtslos ausbeuteten, warf schon 1962 der US-Soziologe Lynn White den Kirchen vor. Dazu kam die Fokussierung auf ein Leben nach dem Tod, dem die Schönheit der Schöpfung im Hier und Jetzt vorzuziehen sei. Und schliesslich begründete zumindest der Soziologe Max Weber den weltweiten Siegeszug des Kapitalismus auch mit der calvinistischen Spielart des Christentums: Da Gewinn und Erfolg Zeichen für göttliche Erwählung seien, treibe der Glauben das Wirtschaftswachstum voran. Heute gilt das ungezügelte Wachstumsstreben als eine der wichtigsten Ursachen für die weltweite ökologische Krise.  Die katholische Kirche sträubt sich nach wie vor gegen die Geburtenkontrolle, obwohl steigende Bevölkerungszahlen den Druck auf die Umwelt erhöhen. Oft fehlt den Religionsgemeinschaften auch der Schritt von der Kanzel zur Praxis. Die Umschichtung der oft milliardenschweren Kirchenvermögen von umweltzerstörenden in nachhaltige Investments kommt nur schleppend in Gang. Die christlichen Kirchen in Europa hätten «viele kluge Denkschriften, aber es fehlt eine einheitliche Strategie zu ihrer Umsetzung», sagt Jobst Kraus, engagierter Umweltkämpfer in der evangelischen Kirche in Baden-Württemberg. «Wir befinden uns in der babylonischen Gefangenschaft des Wohlstands und sind nicht die Motoren für eine nachhaltige Entwicklung, die wir sein könnten.» Die schwerfälligen Apparate der Kirchen und Glaubensgemeinschaften setzen oft andere Prioritäten als die Rettung der Welt.  Dass sich derzeit die fromme Mannschaft des neuen US-Präsidenten Donald Trump, angeführt vom konservativ-christlichen Vizepräsidenten Mike Pence, auf Gott beruft, aber nicht viel mit Umweltschutz anfangen kann, beweist ihre Einstellung – etwa den Klimawandel als «Erfindung der Chinesen» abzutun – und nimmt die Umweltbehörde EPA auseinander. Auch in vielen europäischen Staaten wie in Polen stehen konservative Christen an der Speerspitze der wissenschaftsfeindlichen Leugner des Klimawandels.  Konfrontiert mit der klimatischen Realität aber sieht sich der indische Wallfahrts­tempel Amarnath. Dort mussten die Verantwortlichen zu einer klimabedingten Notmassnahme greifen, um die Folgen des Klimawandels zu mildern: Sie versahen die Höhle mit dem Shiva-Schrein mit einer Kühlanlage, um die Eisfigur möglichst lange zu konservieren.

Der deutsche Journalist Bernhard Pötter schreibt schwerpunktmässig über Klima-, Energie- und Umweltthemen. Er arbeitet seit 1993 für die «taz», schreibt aber auch für «Die Zeit», «WOZ», «Geo» und «New Scientist». Zu seinen Buchprojekten gehören «Tatort Klimawandel» (Oekom Verlag) und «Stromwechsel» (Westend Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).