Gestresste Städter und desillusionierte Aktivisten üben sich im Plum Village Hong Kong in Achtsamkeit. Im Kloster des Zen-Meisters Thich Nhat Hanh wird bewusst geatmet, regelmässig meditiert und vegetarisch gegessen. «Mindfulness» soll die Menschen auch für den Umgang mit der Natur sensibilisieren. Ein Augenschein vor Ort.

Vor uns liegen zwei Schüsseln mit Reisnudeln, dazu gewürzter Kürbis und Süsskartoffeln. «Wir sind in Gedanken ganz beim Essen, denken an die Bauern, die dafür gearbeitet haben, an die Erde, die das Gemüse getragen und an die Sonne, die die Energie geliefert hat», sagt Gabriel Lui, dreissig Jahre alt, wohnhaft in Hongkong, Absolvent eines Anglistikstudiums und seit mehreren Jahren Anhänger des Mindfulness-Lehrers Thich Nhat Hanh. Gabriel unterrichtet mich gerade in «Mindful Eating», einer der Kernpraktiken der Lehre. «Sei ganz beim Essen. Wir kauen jeden Bissen mindestens zehn Mal, bis er vom Speichel vollkommen aufgelöst ist», fährt er fort. «Wir nehmen uns Zeit, atmen ruhig und werden uns bewusst, wann wir genug haben.» Für einen Moment gelingt es mir tatsächlich, mich auf den süsslich-erdigen Geschmack des Kürbisses zu konzentrieren. Doch dann – zack! – sind die Gedanken schon wieder beim Taxifahrer, der mich über eine kurvenreiche Strasse durch die Dunkelheit ins Kloster auf Lantau gebracht hat, einer von 263 Inseln Hongkongs. Es liegt versteckt auf einer Anhöhe in dichten Wäldern, der Kontrast zum Lichtermeer und Lärm der Metropole könnte nicht grösser sein. Gabriels ruhige Stimme holt mich zurück: «Wir werden nun so lange in Stille essen, wie es dir wohl ist dabei.» Dann vertieft er sich in den Genuss seiner Nudeln.

BUDDHISTISCHE WEISHEIT ODER MCMINDFULNESS?

Ich weiss nicht mehr genau, wann ich zum ersten Mal über das Wort «Mindfulness» gestolpert bin – zu Deutsch Achtsamkeit oder Aufmerksamkeit. War es, als mir eine Kollegin eine Einladung für eine Retraite schickte? War es am Kiosk, als ich in einem der neuen Lifestyle-Magazine blätterte, die mit Tipps für ein Leben in Achtsamkeit aufwarten? Oder war es in der Spiritualitätsecke meiner Bibliothek, wo Titel wie «Das Achtsamkeitstraining: 20 Minuten täglich, die Ihr Leben verändern» mittlerweile ganze Regale füllen? Mindfulness ist seit einigen Jahren besonders in westlichen urbanen Gesellschaften aktuell – auch in der Schweiz. Neu ist sie nicht, die Lehre von einem besseren Leben durch absolute Präsenz im Augenblick und Vergegenwärtigung des eigenen Tuns. Die Wurzeln reichen bis weit in die Geschichte des Buddhismus zurück. Buddha sah in der Achtsamkeit, der bewussten Atmung und  der Meditation den Schlüssel zu Zufriedenheit und Freude.

In den 1970er Jahren nutzte der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn buddhistische Meditationstechniken für medizinische Zwecke und popularisierte das Achtsamkeitstraining über das von ihm entwickelte Programm Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR). Heute schwören Promis wie Sharon Stone oder der «Hundeflüsterer» Cesar Millan auf die Kraft von Mindfulness. Im Silicon Valley gehören Mindfulness-Veranstaltungen zum guten Ton. Google will zum achtsamen Unternehmen werden und lädt die Gurus der Szene an seinen Hauptsitz ein. Das gefällt nicht allen. Zen-Lehrer David Loy beklagt mit dem Begriff «McMindfulness», dass die Lehre trendy und konsumierbar gemacht worden sei wie ein Hamburger und mit dem buddhistischen Gedankengut nichts mehr zu tun habe. Gabriel, mein Lehrer in «Mindfulness Eating», kennt das Problem. Als ich die Stille nach zehn Minuten mit einer Frage durchbreche, erzählt er mir von seiner früheren Arbeit für ein Unternehmen, das Mindfulness-Retreats für Grossfirmen in Hongkong anbietet.

«Alles drehte sich darum, die Effizienz der Mitarbeiter zu steigern. Aber dass die heutige Arbeitswelt Menschen krank macht und sie dazu verleitet, als Kompensation für ihren Stress immer mehr zu konsumieren, davon wollten mein Chef und unsere Kunden nichts wissen.» Gabriel musste oft übers Wochenende arbeiten, denn das Business florierte. Am Ende schrammte er knapp an einem Burn-out vorbei. Was sein Chef vor gut bezahlten Managern in den gesichtslosen Hochhäusern Hongkongs predigte, hatte mit echter Mindfulness nichts zu tun, wie er heute weiss. Seit er gekündigt hat, kommt er fast jeden Sonntag mit seiner Mutter zum Meditieren nach Lantau: «Erst hier im Plum Village habe ich die Schönheit echter Achtsamkeit kennengelernt.»

HARMONISCH LEBEN MIT DER ERDE

Plum Village Hong Kong ist ein Kind des Zen-Meisters und Friedensaktivisten Thich Nhat Hanh (Thay). Es ist eines von weltweit acht Klöstern, in denen Mönche und Nonnen sowie weltliche Anhänger «die Kunst des harmonischen Zusammenlebens untereinander und mit der Erde» lernen. Der 91-jährige Mönch gilt als Vater der Mindfulness-Bewegung und vehementer Verfechter eines «Engaged Buddhism», der die Nähe zum Menschen sucht und sich aktuellen Fragen stellen will. Meditation soll nicht nur in stillen, von Duftkerzen beleuchteten Seminarräumen stattfinden, sondern Teil des Alltags werden – beim achtsamen Sitzen, Gehen, Essen, Teetrinken und Gärtnern. Thay ist so etwas wie der Dalai Lama des Alltags. Am Tag des chinesischen Neujahrs, 2017 am 28. Januar, öffnet das Kloster jeweils seine Tore für Anhänger und Interessierte aus Hongkong und «Mainland-China». Rund zwanzig Besucher sind dieses Jahr gekommen, die meisten übernachten im Gästehaus mit seinen undichten Fenstern, den harten Betten und dem Gemeinschaftsbad. Für die Neujahrszeremonie begeben wir uns in den zentralen Tempel, der in einem weiten Garten mit Bambus und Bonsais liegt. Wir setzen uns auf die braunen Matten, die vor einer hohen, golden glänzenden Buddhastatue aufgereiht sind. Vor uns die Mönche und Nonnen im Lotussitz, in senfgelben Gewändern und mit kahl rasierten Schädeln. Einige tragen Kappen und Schals, denn in der Höhe von Lantau wird es im Januar nachts bitterkalt. Die Feier beginnt mit einer stillen Sitzmeditation. Nach einer halben Stunde leiten ein Gong und Trommeln zu Gesängen über. Im «Sutra of the insight that brings us to the other shore» geht es um Leiden, Weisheit und die Untrennbarkeit von Körper, Gefühl, Bewusstsein und allen Dingen im Kosmos.

TRADITIONELLER VS. GELEBTER BUDDHISMUS

Am nächsten Morgen lerne ich Samuel Lee kennen, einen 34-jährigen Mediengestalter aus Hongkong. Er gehört zu den neueren Anhängern Thays und zeigt noch den Eifer des frisch Bekehrten. «Das hier ist Buddhismus 2.0», sagt er begeistert, «das hat nichts mehr mit der Religion zu tun, mit der wir aufgewachsen sind.» Die meisten Buddhisten, die er kennt, pilgern einmal pro Jahr – meist zu Neujahr – in

Die Tian-Tan-Buddhastatue auf Lantau ist bei Buddhisten aus Hongkong beliebt fürs Neujahrsgebet. © Samuel Schlaefli

eines der Klöster oder zum 34 Meter hohen Tian Tan Buddha aus Bronze auf Lantau. Dort zünden sie Räucherwerk an, beten und hoffen auf Glück und Wohlstand im neuen Jahr. «Doch dann arbeiten sie wieder wie verrückt», sagt er, «und das bisschen Freizeit dazwischen nutzen sie zum Shoppen und Konsumieren.» Im Plum Village bete niemand für Glück, erklärt Samuel. «Wir arbeiten über die Meditation aktiv daran. Wir tun das nicht für Buddha, sondern für uns.» Thay wird als Erneuerer geliebt. Er ist dafür bekannt, dass er Bücher über den Buddhismus schreibt, ohne ihn zu nennen. Das kommt gerade bei jungen Menschen im asiatischen Raum gut an, die auf der Suche sind nach neuen Lebensinhalten, sie jedoch in der Religion nicht mehr finden. Die meisten Besucher, die ich im Plum Village treffe, sind um die dreissig und Buddhisten. Aber auch einige Christen sind darunter. Für sie alle ist Thays Lehre eine praktische Lebensphilosophie und keine Religion. Mit den Mantras ernsthafter Mönche können sie nichts anfangen. Sie fühlen sich angezogen von Mönchen und Nonnen, mit denen sie auf Augenhöhe diskutieren können, die in ihrer Freizeit Lieder von Simon & Garfunkel singen und zum Stimmen der Gitarre das iPhone zücken.

SPIRITUELLER RÜCKZUGSORT IN DER «SANGHA»

«Mindfulness war für mich der Weg zurück zum Buddhismus», sagt Rosalia Leung, als wir uns am Mittag beim Buffet vor dem Tempel aus Töpfen mit Reis, Grünkohl, Salat und Tofu bedienen. Die Architektin meditiert seit zwei Jahren täglich. Sonntags kommt sie meist zum «Mindfulness Day» nach Lantau. Dort findet sie ihre «Sangha», ihre Gemeinde aus Mönchen, Nonnen und Laien. Bei ihrem ersten Besuch habe sie noch nichts über Thays Lehre gewusst, sagt sie. «Ich suchte einfach einen Ort zum Meditieren, um dem verrückten Leben da unten gelegentlich zu entfliehen.» Ihre Beziehung zur Familie sei seither besser geworden: «Heute bin ich mir meiner Emotionen bewusst und kann sie kontrollieren.» Zugleich wurde sie Vegetarierin. «Ich lernte erst allmählich, dass die beiden Dinge viel miteinander zu tun haben.» Das Essen nimmt in der buddhistischen Vorstellung der Verbundenheit von Mensch und Natur eine zentrale Rolle ein. Zwar essen auch viele Buddhisten in Asien Fleisch, nicht aber im Plum Village, wo man munkelt, dass sogar die Hunde vegetarisch gefüttert werden. Eine Nonne erzählt mir, sie erlebe oft, dass sich Besucher nach ihrem Aufenthalt einfacher und vegetarisch ernährten. Was Thay unter «Mindfulness Consumption» versteht, wird im Plum Village vorgelebt. Kloster und Gästehaus werden nicht beheizt. Gegen die Kälte gibt es Faserpelze und Wolldecken. In der Dusche des Gästehauses ermahnen handgeschriebene Kleber zum Wassersparen. Abgewaschen wird über mehrere Wasserbecken und der Abfall fein säuberlich rezykliert. Der getrocknete Dung der Kühe und Büffel, die auf Lantau frei herumlaufen, dient im Garten als Dünger. Achtsamkeit und Nachhaltigkeit gehen hier Hand in Hand.

DURCH INNEREN WANDEL ZUR BESSEREN WELT

Wer Liebe und Mitgefühl für sich selbst und andere entwickle, so Thays Argumentation, denke auch mehr über die Konsequenzen seines Handelns nach. Der Wandel beim Individuum soll gesellschaftliche Umbrüche erst ermöglichen. Der Zen-Meister engagierte sich jahrelang gegen den Krieg in seiner Heimat Vietnam und musste ins Exil nach Frankreich flüchten. 1967 schlug ihn Martin Luther King für den Friedensnobelpreis vor. Umgekehrt beobachten Nonnen und Mönche, dass Aktivisten nach Lantau kommen, weil sie das selbst erlebte oder beobachtete Leid in der Welt überfordert. Hier können sie Techniken erlernen, um ihre negativen Emotionen in etwas Konstruktives umzuwandeln. Zu dieser Gruppe gehört Christiana Figueres, bis vor kurzem Generalsekretärin der UNFCCC (Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen) und federführende Diplomatin bei den internationalen Klimaverhandlungen. Aus Interviews weiss man, dass sie Thays Lehre und die Unterstützung der Sanghas brauchte, um mit dem Stress und den Frustrationen fertig zu werden, die sich in sechs Jahren Klimapolitik angehäuft hatten. Dank dem Achtsamkeitstraining sei es ihr zudem gelungen, die nötige Sensibilität zum Aushandeln von Kompromissen zu entwickeln. Figueres war im Dezember 2015 massgeblich am Zustandekommen des Klimavertrags von Paris beteiligt. Ein Durchbruch, der weltweit als Erfolg gefeiert wurde. Und ein Beispiel dafür, dass Mindfulness – in seiner echten Form – tatsächlich zu einem positiven gesellschaftlichen Wandel beitragen kann. Im Kleinen genauso wie im Grossen.

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Laut Yuka Nakamura vom Center for Mindfulness in Zürich hat das Thema Achtsamkeit in der Schweiz massiv an Interesse gewonnen. Sie sieht den Hauptgrund dafür in der Zunahme von Stress, was an Befragungen abzulesen sei. «Für viele ist das Leben zu schnell geworden, sie sind überfordert. Psychosomatische Symptome und erhöhte Reizbarkeit sind die Folge.» Laut der diplomierten Psychologin sind Achtsamkeitstrainings in Burnout-Kliniken heute Standard. Viele wissenschaftliche Studien hätten gezeigt, dass die Übung von Achtsamkeit gegen Depressionen und Angstzustände helfe und sich positiv auf das Wohlbefinden auswirke. Der Schweizer Verband zählte im Februar 2017 161 Trainer, die Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR) nach Jon Kabat-Zinn unterrichten. Seit 2014 kommen jährlich rund zwanzig Trainer dazu. Ein Plum Village gibt es in der Schweiz nicht. Wer Thays Weg der Achtsamkeit selbst erlernen möchte, wird in Frankreich und Deutschland fündig: plumvillage.org