Gregory Jaczko hat als Chef der US-Atomaufsicht den Super-GAU von Fukushima miterlebt. Obwohl er sich nicht als Gegner der Atomkraft sieht, verfolgt er die Atomindustrie mit kritischem Blick. Der Schweiz empfiehlt er, die Laufzeit der alten Reaktoren in irgendeiner Form zu begrenzen. Die Schweizerische Energie-Stiftung SES hat sich nach Jaczkos Auftritt am Nuclear Phaseout Congress 2016 mit ihm unterhalten.

Gregory Jaczko referierte am Nuclear Phaseout Congress 2016 als «Mann mit einschlägiger Erfahrung» und zeigte mit klaren Worten die Grenzen der Atomaufsicht auf. Dabei räumte der ehemalige Chef der US-Atomaufsichtsbehörde mit vorherrschenden Missverständnissen auf. Die Verantwortung für die Sicherheit eines Atomkraftwerks trage nicht primär die Atomaufsicht. Diese liege letztlich bei den Betreibern selbst. Zudem werde Sicherheit unterschiedlich definiert und verstanden. Die Bevölkerung beispielsweise verstehe «Sicherheit» als Garantie für die Unmöglichkeit eines nuklearen Unfalls. Für die Aufsichtsbehörden jedoch heisse «sicher» nur, dass die AKW-Betreiber die gesetzlichen Anforderungen einhalten. Sein Fazit ist ernüchternd: Ein Unfall kann sich jederzeit wieder ereignen. Das zeigt auch ein Blick in die Geschichte der Atomenergie. Ein Gespräch mit Gregory Jaczko über die Herausforderungen beim Langzeitbetrieb von alten AKW und die beste Lösung für eine sichere Ausserbetriebnahme.

SES: Herr Jaczko, wenn Sie hören, dass die Schweiz mit Beznau I das älteste AKW der Welt betreibt, was löst das bei Ihnen aus?

Gregory Jaczko: Das überrascht mich nicht so sehr. In den USA gibt es Anlagen, die fast gleich alt sind wie das AKW Beznau. Was mich mehr überrascht, ist die Tatsache, dass dieser Alt-Reaktor eine unbefristete Betriebsbewilligung besitzt. Aus meiner Sicht sind das heikle Voraussetzungen, um ein AKW zu betreiben. In den USA haben die Atomanlagen befristete Bewilligungen für eine Laufzeit von 40 Jahren. Die Betreiber haben die Möglichkeit, eine Laufzeit-Verlängerung zu beantragen. Um diese zu erhalten, werden diejenigen Komponenten der Anlage untersucht, welche von alterungsbedingten Abnutzungserscheinungen betroffen sein können. Die Betreiber müssen aufzeigen, dass sie diese Komponenten genügend überwachen. Sie müssen sicherstellen, dass keine unvorhersehbaren Ereignisse eintreten können.

SES: Welches sind die grossen Herausforderungen beim Langzeitbetrieb von Atomkraftwerken?

GJ: Es existieren Bauwerke, die bedeutend älter sind als Atomkraftwerke. In der Schweiz gibt es z.B. Brücken, die auf die Antike zurückgehen. Bauwerke können für sehr lange Zeit bestehen bleiben, wenn sie entsprechend in Stand gehalten werden. Bei der Atomkraft ist das anders. Die Bestandteile sind sehr rauen Bedingungen ausgesetzt, etwa starken Temperaturunterschieden oder sehr hohen Strahlenbelastungen. Diese Faktoren beschleunigen den Alterungsprozess der Materialien. Die grosse Herausforderung im Langzeitbetrieb ist, dass diese Alterungsprozesse stetig fortschreiten und das Verhalten der Materialien kaum vorhersehbar ist. Man begibt sich auf Felder, auf denen man schlicht noch zu wenig Erfahrung hat. Das erschwert die Beurteilung der Sicherheit stark: Sind die gesetzlichen Anforderungen nun erfüllt oder nicht?

SES: Was ist ihre Empfehlung an die Schweiz? Wie können wir die letzten Betriebsjahre unserer Alt-Reaktoren bis zur endgültigen Ausserbetriebnahme sicher gestalten?

GJ: Der beste Weg ein AKW abzuschalten ist, dies am Vorabend anzukünden. Denn der Entscheid, ein AKW für immer herunterzufahren, hat eine nicht zu vernachlässigende Auswirkung auf die Moral und die Leistungsbereitschaft der Angestellten. Das ist völlig normal. Es gibt Umwälzungen, der Arbeitsfluss wird beeinträchtigt. Qualifizierte Fachleute werden die Stelle wechseln, um ihre Karriere weiterzuverfolgen, und nicht drei Jahre lang bis zum Betriebsende der Anlage bleiben. Man wird kaum mehr geeignete Fachleute für eine auf sechs Monate befristete Anstellung finden. In der Folge muss das bestehende Personal Überstunden leisten. Und das birgt das Potenzial für Fehler. Das ist einfach keine optimale Situation, um ein AKW sicher zu betreiben.

SES: Eine mögliches Phaseout-­Szenario bietet sich der Schweiz mit der Abstimmung zur Atomausstiegs­initiative, welche diesen Herbst vors Volk kommt. Die Initiative sieht eine Ausserbetriebnahme nach 45 Jahren vor. Denken Sie, das ist eine gute Idee?

GJ: Ja. Ich denke, es braucht eine Art von Laufzeitbegrenzung. Als Kompromiss könnte man immer noch eine Laufzeiterweiterung von z.B. 15 Jahren garantieren, verbunden mit einer gewissenhaften Überprüfung des Zustands der Anlage. Meiner Meinung nach braucht es – in irgendeiner Form – eine klare Befristung der Betriebsbewilligung. Ausser der Schweiz kommt mir kein anderes Land in den Sinn, in dem es das nicht gibt.

SES: Leider hat das Parlament kürzlich genau einen solchen Kompromiss – ein Langzeitbetriebskonzept für jeweils eine Verlängerung von 10 Jahren – abgelehnt. Und dies gegen den Willen der Atomaufsicht ENSI…

GJ: Wie kann man hier dagegen sein? Selbst als Atomkraft-Befürworter gibt es doch keine Einwände gegen eine Laufzeitbegrenzung, verbunden mit einer Laufzeitverlängerung unter bestimmten Sicherheitsauflagen? Das verstehe ich nicht.

SES: Man hört in der Schweiz immer wieder, die Atomkraft sei aus Klimaschutzgründen unabdingbar. Was sagen Sie dazu?

Die aktuelle Tendenz ist die, dass in den nächsten 10 bis 15 Jahren mehr AKW altersbedingt stillgelegt werden als neue ans Netz gehen. Schauen Sie sich die Schweiz an: Sie bauen keine neuen Atomkraftwerke mehr und die bestehenden werden früher oder später heruntergefahren. Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht, wie man von der Atomkraft als Lösung für den Klimawandel reden kann. Wenn dieser Trend sich fortsetzt, wird es ausser in China, Indien und Russland bald nur noch sehr wenige AKW geben. Viele Leute sprechen von der Notwendigkeit der Atomkraft für den Klimaschutz. Aber selbst wenn wir das Klimaproblem mit Hilfe der Atomkraft lösen wollen, sitzen wir in der Tinte, denn die Atomkraft kann diese Rolle nicht erfüllen. Realistisch ist diese Lösung nicht. Die wenigen AKW-Neubauprojekte in den USA und Europa sind massiv hinter dem Zeitplan und massiv über dem Budget. In den USA sind die Kosten dermassen explodiert, dass wir am Punkt angelangt sind, wo es schlicht nicht mehr möglich ist, neue AKW zu bauen. Niemand ist bereit, ein neues AKW zu finanzieren.

Zu Gregory Jaczko: Die USA sind das Land mit den meisten betriebsfähigen Reaktoren weltweit. Gregory Jaczko wurde 2005 als Kommissar der US-Atomaufsichtsbehörde NRC vereidigt. 2009 ernannte Präsident Barack Obama ihn zum Vorsitzenden der Organisation. Im Nachgang an Fukushima vertrat Jaczko die Position, dass die Bewilligungen für vier neue Reaktor-Bauprojekte in den USA nicht erteilt werden sollten. Aus seiner Sicht waren die Konsequenzen aus dem Unfall in Fukushima nicht gezogen worden, entsprechende Änderungen an den Sicherheitsstandards fehlten. Doch Jaczko wurde von den übrigen Kommissionsmitgliedern überstimmt und die Bewilligungen wurden erteilt. 2012 trat Jaczko von seinem Amt zurück. Heute arbeitet er als Berater im Bereich der erneuerbaren Energien.

Über den Autor: Valentin Schmidt ist Leiter Politik&Kommunikation bei der Schweizerischen Energie-Stiftung SES. Das Interview ist in der Ausgabe 2/2016 des SES-Mitgliedermagazins «Energie und Umwelt» erschienen. Als politisch und finanziell unabhängige Fachorganisation setzt sich die SES seit nunmehr 40 Jahren für eine menschen- und umweltgerechte Energieversorgung der Schweiz ein.