«Der Pfahl im Fleisch» ist ein bildhafter Ausdruck für eine ständige Bedrohung oder ein ständiges Ärgernis. Er stammt aus der Bibel und verkörpert eine schmerzliche Ermahnung gegen die Überheblichkeit. Ein Pfahl im Fleisch ist ein lästiger Fremdkörper, den man loswerden möchte.
Eine Kolumne von Markus Waldvogel
Wer heute über die «Fleischfrage» schreibt, stört fast automatisch den öffentlichen Diskurs, denn Fleisch gehört zum täglichen Ernährungsritual. Fleisch zu essen ist für die meisten Menschen fast gleichbedeutend wie Luft zu atmen. In der Schweiz werden pro Kopf jährlich über 60 Kilogramm Fleisch verzehrt. Jung und Alt sind in dieser Zahl ebenso eingerechnet wie Vegetarier und Veganer. Fleischesser bringen es also auf gut 75 Kilo pro Jahr.
Natürlich will niemand eingeschränkt werden, wenn es um etwas geht, das so viel Freude macht und einem den Feierabend und die Feiertage verschönert. Der Fleischverzehr ist ein Akt der persönlichen Wahl und der Freiheit. Selbst sozial eingestellte Menschen drehen mitunter argumentative Pirouetten, wenn es darum geht, den hohen Fleischkonsum zu rechtfertigen. Sie sagen zum Beispiel, gerade ärmere Bevölkerungsschichten könnten es sich schlicht nicht leisten, beim Kauf von Fleisch auf die Umweltverträglichkeit zu achten; nachhaltig produziertes Fleisch sei für sie viel zu teuer. Umgekehrt bedeutet das: Natura-Fleisch soll den besser Verdienenden vorbehalten sein. Nur in ihren Pfannen sollen ökologisch vertretbar produzierte Delikatessen brutzeln.
Allerdings ist das Argument, naturnah produziertes Fleisch sei für Minderbemittelte zu teuer, kurzsichtig und abwegig, ja zynisch. Denn die ökologischen Folgen der Fleischindustrie durch den verheerenden Methanausstoss von Rinderkot und den enormen Wasser- und Futtermittelverbrauch treffen letztlich vor allem die Armen. Das einzige Mittel, um Tierfabriken zu verhindern, besteht darin, den Fleischkonsum insgesamt zu drosseln. Ökologisch vertretbarer Fleischgenuss ist primär eine Frage der Menge.
Die meisten von uns Älteren haben in ihren Kinder- und Jugendjahren lediglich einmal pro Woche Fleisch konsumiert. Das war keine Menschenrechtsverletzung, sondern eine ökonomische Notwendigkeit; geschadet hat es niemandem. Der Fleischkonsum, zumal in grossen Mengen, ist kein unumstössliches Recht. Dass gut betuchte Menschen heute «ausgefalleneres» Fleisch konsumieren, liegt zwar in der Natur des Kapitalismus, ist aber wenig sinnvoll. Diese «Kultur der feinen Stücke» trägt nichts zu einer umweltverträglichen Fleischproduktion bei.
Ökologisch vertretbarer Fleischgenuss ist primär eine Frage der Menge.Der Pfahl in unserem Fleisch ist die Normalität eingeschliffener Essgewohnheiten. Erst wenn wir Fleisch wieder respektvoll als eine Gabe beseelter Tiere betrachten, kann eine Konsumerfahrung der Beschränkung und eines hohen Bewusstseins gedeihen. Reich und Arm sitzen im selben Boot: «Das Fressen kommt vor der Moral», hat auch Bertolt Brecht schon richtig erkannt. Es braucht wohl noch eine Weile, bis die Moral darüber entscheidet, wie wir Fleisch produzieren und letztlich konsumieren.
Markus Waldvogel, Jahrgang 52, Dr. phil., Autor und Schriftsteller, Philosoph, Germanist und Psychologe, hat mit Zingara Triste kürzlich sein zehntes Buch veröffentlicht. Er leitet die Beratungsfirma pantaris, ist Gründungsmitglied der Bieler Philosophietage und war bis 2013 Dozent für Philosophie an der PH Bern.