Mals wäre ein idyllisches Dorf in Südtirol, wenn nicht die Obstbauern ringsum Pflanzenschutzmittel verspritzen würden. Vier Frauen wollen es nicht hinnehmen, dass ihre Umwelt und ihre Gesundheit vergiftet werden. Sie haben den ganzen Ort mitgerissen im Kampf für die erste pestizidfreie Gemeinde Europas.
Wir treffen Martina Hellrigl in ihrem Haus im Dorfkern von Mals. Auf der Fassade prangt ein Marienbild, gegenüber steht die weltliche Macht: das Rathaus. Es ist kurz nach 12 Uhr und die Vierzigjährige stellt Salat, Rotkohl und Spätzle auf den Tisch. Die fast dreijährige Eva greift hungrig nach dem Schöpflöffel. Die Stimmung am Küchentisch ist unbeschwert, nur Martinas Worte sind es nicht: «Die Pestizide der Obstbauern machen uns krank», sagt sie: «Sie gefährden unsere Heimat.» Martina deutet mit dem Finger auf den Salat und den Rotkohl auf dem Tisch, das Gemüse stammt aus ihrem Garten. «Woher weiss ich, dass da keine Pestizide drin sind?»
Vor knapp vier Jahren hatte eine Toxikologin der Universität Oldenburg Heu aus Mals untersucht. Das Ergebnis war schockierend, das Heu war hoch belastet. «So etwas gehört eigentlich in den Sondermüll», sagt Martina Hellrigl, «doch bei uns fressen es die Kühe.» Andere Wissenschaftler entdeckten schädliche Chemie auch auf der Wiese neben der Schule und in den Teekräutern eines Biobauern; danach konnte er seine Produkte nicht mehr verkaufen.
In Mals im Obervinschgau werden bislang nur etwa fünf Prozent der landwirtschaftlichen Fläche für den Obstanbau genutzt, denn die Gegend ist für diese Form des Anbaus eigentlich zu trocken. Im Unterland, keine zehn Kilometer von Mals entfernt, steht längst Plantage an Plantage. Dank moderner Beregnungsanlagen droht das auch dem Obervinschgau. Konventionelle Apfelbäume werden durchschnittlich 25 Mal pro Jahr gespritzt. Im Obervinschgau bläst oft der Wind und Thermik und Regen verbreiten die Pestizide.
Frisiersalon als Keimzelle der Revolution
Beatrice Raas, 46, betreibt in Mals einen Frisiersalon. Die Mutter zweier Kinder lacht oft und herzlich, trägt schulterlanges Haar, eine schwarze Brille und Allerweltsklamotten: legere Leinenhose, feiner Wollpullover. Sie ist eine quirlige Frau, eine, die zupackt und handelt. Vor dem Ort hat sie eine wildromantische Streuobstwiese, die sie liebevoll «meinen Acker» nennt. Dort wachsen Mirabellen, biologisch und für den Eigenbedarf: ein grünes Paradies. Freilich endet das Idyll am Gartenzaun, denn nebenan steht eine konventionelle Apfelplantage, Baum für Baum akkurat festgezurrt an Stangen aus Beton. In ihrer Gleichförmigkeit sehen die Apfelbäume aus wie Soldaten beim Appell. Beatrice Raas hat einen Schutzzaun gegen die Pestizide errichtet. Eine Plastikfolie flattert im Wind. Auch sie fürchtet um die Gesundheit ihrer Kinder und um die Lebensqualität im Dorf.
Im Mai 2013, rund zwei Jahre nach den alarmierenden Untersuchungen der Wissenschaftler, versuchten Umweltschützerinnen und Umweltschützer das Unmögliche: Sie initiierten eine Volksabstimmung «Für ein pestizidfreies Mals». Martina Hellrigl und Beatrice Raas stellten fassungslos fest, dass sich kaum jemand für das Thema interessierte. Die Resonanz in der Bevölkerung war gering.
Da entschieden die beiden Frauen, sich zu engagieren. Der Frisiersalon — zwei Waschbecken, drei Drehstühle, der Boden aus grauem Granit — wurde zur Keimzelle der Revolution. Ihrer Aktionsgruppe gaben sie den Namen Hollawint, was im Vinschger Dialekt «aufgepasst» bedeutet. Sie verfassten einen Leserbrief für die Zeitung und sammelten Unterschriften. Rund 70 kamen zusammen, fast alle von Frauen und Männern, die sich bisher kaum für grüne Themen interessiert und eingesetzt hatten.
Letztlich wurden der Redaktion 13 Briefe eingesandt, jeder unterschrieben von einigen Bürgerinnen und Bürgern. Die Aktion füllte im Lokalblatt Vinschgerwind eine volle Seite. Adressat war der Bürgermeister.
Bitte! Der zunehmende Einsatz von Pestiziden und Herbiziden auf Malser Gemeindegebiet macht uns höchst besorgt um unsere Gesundheit und insbesondere um jene unserer Kinder. Wir bitten unseren Bürgermeister, den Verantwortlichen für die Gesundheit der Gemeindebürgerinnen und -bürger, dafür Sorge zu tragen, dass unser aller Lebensraum und unsere Gesundheit nicht gefährdet werden.
Nach kurzer Zeit hatte Hollawint bereits 90 Unterstützerinnen und Unterstützer. Den harten Kern bilden vier Frauen: Nebst Martina Hellrigl und Beatrice Raas gehören noch Margit Gasser und Maria Pia Oswald dazu. Gasser ist 56, Kindergärtnerin und Mutter dreier erwachsener Kinder, Oswald 52, vierfache Mutter, Tagesmutter und Imkerin.
Hollawint machte das Volksbegehren der Umweltschützerinnen mit einem schlagenden Einfall zum Dorfgespräch. Die Frauen bedruckten Leintücher mit Sprüchen: «Gesunde Heimat für Menschen, Tiere und Pflanzen» — «Pestizidfreie Gemeinde! Landschaft nützen und schützen» — «Frei von Pestiziden — für uns und unsere Gäste». Besonders die Frauen im Dorf sprachen auf die Kampagne an. «Die Leintücher wurden uns aus den Händen gerissen», erzählt Martina. Über Nacht flatterten an Hauswänden und Gartenzäunen 90 grossflächige Botschaften des Protests. Das beschauliche Dorf mit seinen rund 5000 Einwohnern demonstrierte Haltung.
Natürlich bekamen auch die Medien Wind von der ungewöhnlichen Aktion und berichteten. Plötzlich sprachen die Menschen in der ganzen Region über den anstehenden Volksentscheid: im Zug nach Bozen, auf dem Wochenmarkt in Meran — und eben endlich auch in Mals. Am 5. September 2014 fand der mit Spannung erwartete Urnengang statt: 76 Prozent stimmten für ein Pestizidverbot.
Es geht um handfeste wirtschaftliche Interessen
Damit stand David gegen Goliath, denn in Südtirol ist die Landwirtschaft sehr mächtig; und der Bauernbund gilt als stärkste Lobby des Landes. Einst war der Obervinschgau im Dreiländereck von Italien, Schweiz und Österreich die Kornkammer der k.u.k. Monarchie, dann kam die Viehwirtschaft, die nun von Obstplantagen abgelöst wird. Es geht also um handfeste wirtschaftliche Interessen.
Für die Bauern gehören Pestizide seit Jahren zum Geschäft. Sie setzen die ertragssteigernde Chemie flächendeckend ein und der Obstanbau ist inzwischen heilig, denn Äpfel und Kirschen sind zum Exportschlager geworden. Mit rund 18 000 Hektar Anbaufläche ist Südtirol das grösste zusammenhängende Obstbaugebiet Europas, rund fünf Milliarden Äpfel werden hier Jahr für Jahr erzeugt.
Was, wenn der Malser Volksentscheid zum Vorbild für andere Gemeinden in Südtirol würde? Doch so weit kam es nicht. Die Mehrheit des Gemeinderats von Mals weigerte sich, das Ergebnis der Abstimmung in die Satzung des Dorfes einzutragen, obwohl Volksabstimmungen in der Gemeinde seit zwei Jahren bindend sind. Dazu klagten einige Obstbauern vor Gericht gegen den Volksentscheid. Viele Malserinnen und Malser empörte das undemokratische Verhalten. Dies gab den Frauen von Hollawint Mut und neuen Schub. Der harte Kern beschloss: «Wir machen weiter!»
Wieder malten die Frauen Transparente mit angriffigen Sprüchen wie diesem: «Wer noch glaubt, dass die Volksvertreter das Volk vertreten, glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.» Die Frauen setzten ihre ganze Hoffnung auf den Mai 2015. Dann sollte ein neuer Gemeinderat gewählt werden.
Politischer Machtkampf
Im Vorfeld der Wahl rumorte es im Dorf. Für den amtierenden Bürgermeister Ulrich Veith von der Südtiroler Volkspartei (SVP) war der Volksentscheid in der Pestizidabstimmung bindend. Weil er stets offen dazu stand, traten einzelne Pestizidbefürworter mit einer eigenen Liste bei der Gemeinderatswahl an, der Offenen Gemeindeliste Mals. Das war ein politischer Affront, denn einige von ihnen waren bislang für die SVP im Gemeinderat gesessen und damit also Parteikollegen von Veith gewesen.
Am 10. Mai, dem Tag der Wahl, schien die Sonne, kaum eine Wolke stand am Himmel. Ulrich Veith wurde mit überragenden 72 Prozent der Stimmen in seinem Amt bestätigt. Von der Offenen Liste schaffen es 6 inden Gemeinderat, von der SVP 12. War das der Durchbruch?
Martina Hellrigl sitzt in ihrem Wohnzimmer und lächelt. «Wir haben jetzt die Mehrheit im Gemeinderat», konstatiert sie zufrieden. Im Sommer werde erneut abgestimmt, ob das Ergebnis der Volksabstimmung bindende Wirkung haben solle, der Termin sei aber noch offen. Ebenfalls im Sommer erwartet sie den Gerichtsentscheid zu den Klagen der Obstbauern.
Und dann? Keine Pestizide mehr in einem Dorf in Südtirol? Das wäre ja fast wie kein Weihrauch mehr in der katholischen Kirche. Kann das wirklich sein? Vielleicht gerade dort.
Der im Mai 2015 wiedergewählte Bürgermeister Ulrich Veith und die neuen Gemeinderäte haben am 16. Juli den direkt-demokratischen Willen der Malser Bevölkerung mit einer klaren Zweidrittelmehrheit politisch umgesetzt. Das Ergebnis der Pestizidabstimmung wird nun in die Satzung des Dorfs eingetragen.