Süsssauer. So schmeckt ein Apfel. So riecht ein Apfel. Nicht wahr?

Als sie mir den Apfel hinhält, da riecht er genau so, wie ein richtiger Apfel eben riecht. Dennoch ist er ganz anders als diese glänzenden, rosa-, fast pfirsichfarbenen, zuckersüssen und dünnhäutigen Äpfel, die man sonst an Chinas Obstständen und in Supermärkten findet. Er ist von einer gelblichen Sorte, matt, mit dickerer Haut, ein paar kleinen roten Sprenkeln. Vor allem ist er nicht perfekt. Die Haut ist ein bisschen weich, so wie das eben passiert nach ein paar Tagen Apfelleben. Und es gibt diese holzartigen Pünktchen auf seiner Haut. Ich bin kein Apfelexperte. Wer ist das schon? Er erinnert mich an Äpfel aus meiner Kindheit. Sie sieht mich an, ihre Mandelaugen glitzern. «Good Apple», sagt sie. Ich drehe die Frucht in meinen Händen. Wut steigt in mir hoch. Ich lege den Apfel zurück in die Pappschachtel, verabschiede mich eilig. Schnell die mit weichem, goldbraunem Teppich belegten Stufen hinunter, raus aus dem verspiegelten schwarzen Appartementkomplex, ein Taxi von der zehnspurigen Stadtautobahn fischen. Richtung Huohai District.

Stau. Ich checke meine Smog-App. Smogwarnung erfolgt in der Schweiz ab 75 μg/m3. Die höchste Smogstufe ist 150 μg/m3. Offenes Feuer ist dann verboten. Der Verkehr wird strikt reguliert. Als ich vor ein paar Tagen in Peking ankam, glitt ich durch ein graues Nebelmeer, in dem die Spitzen der Wolkenkratzer versanken. Der Taxichauffeur sang mit rauer Stimme «Hey Jude» von den Beatles und schenkte mir eine hellblaue Atemmaske. 300 μg/m3.

Über eine Million Chinesen starben 2010 nach Angaben des Medizinjournals «Lancet» einen Smog-bedingten Tod. Doch Umweltzerstörung ist ein vergleichsweise abstraktes Risiko für die meisten Chinesen. In Umfragen steht es an vierter oder fünfter Stelle ihrer Sicherheitsbedenken. Smog ist schliesslich landesweit durchschnittlich nur an jedem zweiten Tag und vor allem in Städten. Auch der Vorschlag des britischen Historikers Niall Ferguson, die Einführung eines westlichen Gesundheitssystems sei «die Killer-App», um zum Westen aufzuschliessen, dürfte nicht so schnell umgesetzt werden. Das desolate Gesundheitssystem war 2012 nur die drittgrösste Sorge der Bevölkerung, direkt nach der öffentlichen Sicherheit, die lediglich knapp der Hälfte aller Chinesen Sorgen bereitet. Das Problem, das hingegen acht von zehn Personen in Chinas Städten für ihr grösstes Risiko halten, ist viel essenzieller. Und alltäglicher.

Seit Jahren hört man ausserhalb Chinas immer wieder von seltsamen Lebensmittelskandalen. Rattenfleisch, das als Lamm verkauft wird. Eigelb, gefärbt mit Schwermetallen, vergiftete Babymilch. In China hört man so etwas beinahe täglich. Seit über zehn Jahren. Essen ist gefährlich geworden. Und das in einer Gesellschaft, in der Essen mehr als nur Verpflegung ist, sondern ebenfalls: Medizin, Kunstform, Geschichte und Gemeinschaft.

Für diese Familie in Haikou City wird das gemeinsame Essen zur Quelle der Unsicherheit. Lebensmittelskandale erschüttern China, die Umweltbelastung durch Landwirtschaft und Industrie ist massiv. © Liu Feiyue / Greenpeace

Die «CN Air Quality»-App zeigt grün. 83 μg/m3. Ich lasse mich in den Sitz zurückfallen. Sonntag, 15. September 2013, 17 Uhr 30. Noch zwölf Stunden bis zum Heimflug. Vor zwei Wochen war ich angereist, um in China zu kochen. Ich wollte herausfinden, wie die Menschen mit diesem Zweifel umgehen. Was es heisst, bei jedem Essen Angst zu verspüren.

Shanghai

20. Stock, Xikang Road, Schanghai. 23 Uhr. Es ist der 11. September 2013. Ich bin bei Zhang Jun und bringe etwas Brot von ihrer Mutter. Jun hat einen kleinen Indoor-Dschungel aus Topfpflanzen vor ihrer Fensterfront. Dahinter lassen die Lichter der Stadt den feuchten Nachthimmel gelblich leuchten. Neonreklamen, Nieselregen, «Blade Runner». Zwei Stunden vorher stand ich bei ihren Eltern, die sie mir vermittelt hatte, in der Küche, weil ich mit jemandem ganz Normalem kochen wollte. «Wir sind eine Essenskultur», erklärt Jun, während sie mir eine Tasse Grüntee reicht, «ganz offiziell. Das reicht bis in unsere Sprache. Wusstest du, dass wir zur Begrüssung nicht fragen ‹Wie geht es Dir?›, sondern ‹Hast Du schon gegessen?›»

Wer Social-Media-Profile junger Chinesen besucht, wird vor allem eins finden: Food-Fotos. So werden hier Einstellungen vermittelt. Du bist, was Du isst. «Unsere Gerichte haben Namen, die wie Wünsche funktionieren», fährt Jun fort. «Ein Gericht aus Mais und Pinienkernen heisst ‹Gold und Silber für das Haus›. Es wird quasi an jeder Hochzeit gereicht. Die Farben des Gerichts sind entscheidend. Mais und Pinienkerne sind weiss und gelb. Reichtum und Gesundheit.» Geschäfte werden in China am Esstisch geschlossen. Gastgeber übertrumpfen sich. Die Gelage der hohen Parteikader und der Neureichen wurden so opulent, dass sie letztes Jahr verboten wurden. Was dazu führt, dass sie nun in versteckten Restaurants abgehalten werden.

Jun ist ein Kind des Chinabooms. Geboren zur Zeit der wirtschaftlichen Öffnung Ende der siebziger Jahre, wuchs sie im explosionsartig wachsenden Schanghai auf. Sie studierte Finanzwirtschaft, und als zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich China zur Innovationswirtschaft bekannte, studierte Jun in den USA Kunst und verkaufte ganz ansehnlich.

«Insgesamt gibt es fünf Farben, Schwarz, Weiss, Gelb, Blau und Rot. Jede Farbe steht für eines der fünf Elemente, Erde, Wasser, Feuer, Holz, Metall. Die Farben stehen auch für die inneren Organe, Leber, Niere, Herz, Lunge, Blase. Und für fünf Geschmacksrichtungen. Sauer, süss, bitter, salzig, scharf. Und es gibt die Idee von Yin und Yang. Speisen, die kühlende oder wärmende Effekte haben. Traditionelle Gerichte tragen zudem ihre Geschichte mit sich. Darüber reden wir bei Tisch.»

© Anna Albisetti, petermuster.ch

Zum Beispiel «Gegenleistungs-Schweinebauch», Dongpo. Zitiert nach Chinas Food-Papst Du Fuxiang: «Das Gericht stammt aus der Zeit, als Su Shi, ein bekannter Dichter der Song-Dynastie, die Menschen in Xuzhou im Kampf gegen eine Flut anführte. Während der Regierungsperiode Shenzongs in der Song-Dynastie war Su Shi zu einem örtlichen Beamten in Xuzhou ernannt worden. Schon nach wenigen Dienstmonaten begann der Yellow River Xuzhou zu überfluten. Su Shi führte seine Soldaten und auch die Bürger zu einem mehr als einmonatigen Kampf gegen die Fluten an. Schliesslich zog sich das Wasser zurück. Als Ausdruck ihrer Dankbarkeit schlachteten die Bürger Schweine und Schafe und brachten Wein und Fleisch zum Regierungssitz, um sie Su Shi zu überreichen. Es wäre undankbar, die Freundlichkeit der Menschen nicht zu akzeptieren. Su Shi wies also seine Köche an, Gerichte aus dem Fleisch zuzubereiten, die er dann den Bürgern zukommen liess, die geholfen hatten, gegen die Fluten anzukämpfen. Daher der Name des Gerichts.» Dongpo ist ein rundherum knusprig gebratener und anschliessend 21⁄2 Stunden niedrig gegarter Schweinebauch. Gereicht wird Dongpo in einer leicht süsslichen, halbdurchsichtigen Bratensauce, die zusammen mit dem Fleisch auf der Zunge zergeht.

Kochen ist in China Medizin, Kultur, Identität und Kunst.© Liu Feiyue / Greenpeace

Mittlerweile hat sich Jun neu orientiert, «Kochen ist meine Kunst geworden», sagt sie. «Warum?» — «Wegen des Essensproblems.» Wegen des «Gutter Oil», das aus Abflüssen abgeschöpft und als Speiseöl verkauft wird; wegen des Sojaöls aus Haarabfällen von Krankenhäusern; wegen Cadmium im Reis und Schwermetallen im Ingwer. Oder wegen der vergifteten Babymilch. «Damit ging alles los», sagt Jun.

2007 auf 2008 erkrankten in China 300 000 Babys. Offiziell starben sechs der Kinder. Sanlu, damals Chinas führender Babynahrungshersteller, hatte Melamin eingesetzt, um die Proteinwerte der verwendeten Milch zu erhöhen. Dass Melamin töten konnte, nahm Sanlu in Kauf. Hunderte Babys wurden wegen Nierenproblemen eingeliefert. Sanlu ist in China ein Name wie Hipp oder Nestlé im deutschsprachigen Raum. Das Unternehmen galt als so zuverlässig, dass es von Kontrollen quasi befreit war. Eine andere Lesart: Man hatte die Behörden im Griff. Als Ende 2007 die ersten Vorwürfe das Unternehmen erreichten, stoppte man keineswegs den Verkauf. Ab Mitte Juli ist der Staat im Bilde. Und schweigt. Im August 2008 forderte Sanlu hinter den Kulissen die Behörden auf, sich um gute Presse für das Unternehmen zu kümmern. Zudem bot man den Betreibern der chinesischen Suchmaschine Baidu Geld, um negative Resultate zu löschen. Im August 2008 brachte sich der Leiter der staatlichen Lebensmittelkontrolle AQSIQ um. Als am 11. September 2008 ein Reporter die kranken Babys öffentlich mit Sanlu in Verbindung brachte, platzte die Bombe. Das Volk kochte vor Wut. Die EU stoppte den Import chinesischer Babynahrung. Der Fall Sanlu beweise, urteilte das «Time Magazine», dass es keine unabhängige Kontrolle in einem Land gebe, in dem Industrie und Staat so eng verflochten seien. Dann reagierte die Regierung. Staatschef Wen Jiabao tätschelte Babyhände in Krankenhäusern, es gab Schauprozesse. Drei Sanlu-Manager wurden zum Tode verurteilt, zwei hingerichtet. Schon im Jahr zuvor war der Leiter der SFDA, einer grossen staatlichen Behörde zur Überwachung der Lebensmittelsicherheit, wegen Korruption exekutiert worden. 2010 fand man wieder melaminverseuchte Babynahrung «Made in China». Und 2012 wurde Jiang Weisuo, der Mann der die Behörden über das Sanlu-Problem informiert hatte, unter ungeklärten Umständen erstochen. Für Chinesen war gar nichts neu am Sanlu-Vorfall. Schon seit der Jahrtausendwende hatte die Zahl der Meldungen über vergiftete, verseuchte, gefälschte, abgelaufene Lebensmittel in China zugenommen. Stets hatte der Staat versprochen, das Problem zu lösen; ein paar Firmen geschlossen; ein paar Gesetze verschärft; ein paar Personen ins Gefängnis geworfen. Der Fall Sanlu aber wurde in Details publik. Er wurde zu einem Gradmesser dafür, ob sich an der Ausgangssituation etwas geändert hat. Und die lautet: Ein Unternehmen killt Babys für Cash. Und der Staat hilft dabei. Der Fall zeigt: Korruption, fehlende Gewaltenteilung, Zensur, totale Marktwirtschaft, Umweltverschmutzung — am Schluss landet alles auf dem Teller.

Man muss das Wort Lebensmittelsicherheit richtig verstehen. Für Europäer mag es banal klingen. Aber es dreht sich darum, wie sicher die «Mittel zum Leben» sind.

Ich verlasse Jun nach Mitternacht. Unten eine Prostituierte, der die Taxifahrer schüchtern hinterherpfeifen. An einer roten Ampel wartet ein Polizist mit seinem Motoroller. Zwei Jugendliche auf Elektro-Scootern rauschen lachend an ihm vorbei. 92 μg/m3.

Kochen

Am Nachmittag hatte ich die Mutter von Jun getroffen. Eine pensionierte Englischlehrerin, die mit ihrem Mann in der Schanghaier Innenstadt lebt. Wir hatten uns zum Kochen verabredet. Für Frau Zhang eine Chance, ihr Englisch aufzufrischen. Sie ist so aufgeregt, dass sie viermal anruft auf meinem zehnminütigen Weg von der Metro zu ihr. Vorbei an einer Mall, davor ein halbes Dutzend Handkarren, auf denen chinesische Würstchen brutzeln.

Die zierliche Endsechzigerin mit den halblangen, noch fast vollständig schwarzen Haaren trägt ein blaues Kleid mit Blumenmuster. In der Hand hält sie eine grüne Stofftüte und ihr kleines Nokia-Imitat. Mobiles Internet und Mikroblogs voller Foodskandale sind wahrscheinlich nicht Bestandteil ihres Lebens. Donner grollt. Der Himmel ist braun. Tag und Nacht ähneln sich in Schanghai.

Ich sage ihr, dass ich lernen wolle, wie man Hausmannskost zubereite. Und wie man gesunde Nahrung erkenne. «Das hat meine Tochter erzählt! Kommen sie mit.» Sie trippelt durch das Wohngebiet. «Fast alle Gemüse sind gesund. Seit zwei Jahren kaufe ich Gemüse immer frisch von diesem Kooperativenvertreter, der hier jeden zweiten Morgen seinen Stand aufbaut. Aber um diese Zeit müssen wir in den Supermarkt.» Als wir die Strasse überqueren, reicht sie mir schützend ihre Hand.

Dieser Text erschien ursprünglich im REPORTAGEN vom November 2013

Die kleine Linhua-Filiale ist im Erdgeschoss eines etwa 30-stöckigen Wohnhauses. Es sieht aus wie in einem Dorf-Supermarkt. Fast alles Gemüse ist in Folie eingewickelt, die Preise sind aufgedruckt, Herkunftsangaben nicht. Gelbe Maiskolben, rote Kürbisse, Brokkoli und grüne Peperoni. Eine Kiste mit schlaffem grünem Salat steht am Boden. Salat ist etwas Neues in China. Beim Obsthändler ist eine ganze Wand staffiert mit gleichförmig-makellosen Äpfeln, deren sanftes Rosé den Paradiesvorstellungen eines nordkoreanischen Illustrators entsprungen sein könnte. Wir kaufen Trauben.

Sie koche etwa fünf Stunden täglich. Eine Stunde für das Frühstück. Mittags und abends je zwei Stunden. «Aber ich bin leider eine bescheidene Köchin.» 1947 in der nördlichen Provinz Shaanxi geboren, sei sie während der Schulzeit eben immer in der Schulkantine verpflegt worden. Nur am Wochenende habe sie von ihrer Grossmutter kochen lernen können. Ende der fünfziger Jahre habe der Hunger angefangen. Die Lebensmittelkarten. Die Rationierung.

Anlässlich des zweiten Fünfjahresplanes 1958 hatte Staatschef Mao Zedong zum Grossen Sprung Nach Vorne aufgerufen. Das bäuerliche China sollte den Schritt in die Industriegesellschaft machen. Es wurde propagiert, die Agrarphase sei überwunden, es sei genügend Essen für alle vorhanden. Nach regelrechten Fressorgien 1958 und 1959 leerten sich die Nahrungsmittellager. Dann kamen aus der Parteizentrale in Peking Anweisungen an die Farmer, wie sie fortan anzubauen hätten. Politische Konzepte wurden als Pflanzanweisungen ausgegeben. Gleichzeitig wurde das ganze Volk dazu aufgefordert, die Stahlproduktionszahlen zu steigern. Bauern schmolzen in improvisierten Hochöfen aus Lehm ihre Mistgabeln ein. Das Resultat waren riesige Ernteausfälle, verstärkt durch eine Serie von Naturkatastrophen. Zwischen 1960 und 1962 starben in China 20 bis 45 Millionen Menschen an den Folgen der Nahrungsmittelknappheit. Genauere Zahlen gibt es nicht.

Wir laufen durch den Innenhof. Ein Trinkwasserspender mit Münzschlitz versorgt die vier Blocks mit je 22 Stockwerken. Im zweiten Stock öffnet Frau Zhang eine Gittertür, dahinter eine Holztür, die in ihre 60 m2 grosse Drei-Zimmer-Wohnung führt. Links in der Küche legen wir das Gemüse ab. Alles ist voll chinesischer Technik. Über dem Herd hängt ein Luftabzug, daneben steht eine Mikrowelle, ein kleiner Elektro-Ofen, ein elektrischer Reiskocher — und eine Brotbackmaschine. Der mannshohe Kühlschrank steht nebenan im Wohnzimmer. Frau Zhang zeigt mir ein chinesisches Kochbuch mit deutschen Brotrezepten. Ich probiere ein Stück «bayrisches Weizenbrot», das an einen Weihnachtskuchen erinnert. «Ich liebe Brot», sagt sie. «Das müssen Sie nachher meiner Tochter mitbringen.» Frau Zhang nimmt eine Plastikkanne mit Filter und giesst Wasser in eines der zwei Metallbecken. «Zuerst den Reis waschen. Aber nur mit Filterwasser!» Sie hebt warnend den Finger. «Das Wasser ist verschmutzt von Medizin und Landwirtschaft.»

Wer es sich leisten kann, filtert sein Wasser oder kauft es in Flaschen. Sogar zum Gemüsewaschen. Diese Frau aus Yangling hat keine Wahl, sie ist auf das verschmutzte Wasser aus dem Yangtze Fluss angewiesen. © Lu Guang / Greenpeace

Wir beginnen das Abendessen vorzubereiten. Ihr Mann kommt herein. Zu dritt schneiden wir Gemüse. Chinesisches Kochen funktioniert modular, Vorbereitung ist alles. Für die anschliessende Braterei reicht der typische Zweiflammen-Herd. Über allem liegt in der Küche ein leichter Fettfilm. Ihr hochgewachsener, schlanker Mann trägt halblange offene graue Haare und übernimmt die Arbeit am Herd. «Das Filtern haben wir vor etwas über zehn Jahren angefangen. Damals haben die Leute im Hof begonnen, über Krebs zu sprechen. Bald fingen wir auch an, alles Obst zu waschen. Früher haben wir die direkt vom Händler gegessen. Heutzutage schälen wir fast alles.» Magenkrebs ist eine immer häufigere Todesursache im Schanghai des dritten Jahrtausends.

Ihr Mann stellt eine Reihe kleiner Schalen neben dem Herd auf, wässert Mu-Err-Pilze, legt den Tofu bereit, zaubert ein Stück Schweineschwarte hervor. Er setzt einen Wassertopf auf, um ein paar Hühnerflügel aufzukochen. Zu jedem chinesischen Mahl gehört eine Suppe. Meist eine wässrige Brühe. Früher wurde in China die Kompetenz einer Hausfrau an ihrer Fähigkeit gemessen, eine besonders schmackhafte Brühe zuzubereiten.

China produziert etwa die Hälfte allen Schweinefleisches weltweit. Und es kauft noch weiteres dazu. Schweinefleisch ist das Symbol des Fortschritts für die sogenannte Bittere Generation, zu der die Jahrgänge der Babyboomer in China gezählt werden. Während die zwischen 1945 und 1960 Geborenen im Westen vom Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg profitierten, durchlitten ihre Altersgenossen in China Anfang der 1960er die grösste Hungersnot der Weltgeschichte, anschliessend den Terror und die mageren Jahre der Kulturrevolution.

«Die Intellektuellen», also mehr oder minder die gesamte gebildete Schicht des Landes, litten unter den Strassengangs, die Mao aktiviert hatte, um das Übel der «konterrevolutionären Lebenshaltung» an der Wurzel zu packen. Studenten wurden aufs Land geschickt, um von den Bauern ein bescheidenes Leben zu lernen und die landwirtschaftliche Produktivität anzukurbeln. Historiker wie der deutsche Kai Vogelsang vermuten, es sei darum gegangen, die geburtenstarken Jahrgänge, für die es keine Arbeit gab, loszuwerden und durch einen Kampf verschiedener Gesellschaftsschichten gegeneinander die Notwendigkeit einer starken Partei aufrechtzuerhalten.

Viele starben auf dem Land an den Folgen harter Bedingungen, andere vereinsamten, zogen sich zurück, wieder andere gewöhnten sich an das neue Leben, wie der in Schanghai geborene Herr Zhang, der in Xi’an seine Frau kennenlernte und heiratete. Ende der 1970er konnte die junge Familie nach Schanghai ziehen. Als es in dieser Zeit begann, bergauf zu gehen, wurde die schlecht ausgebildete Bittere Generation bereits von den Jüngeren am Arbeitsmarkt verdrängt.

Doch Familie Zhang hatte stets halbwegs Glück, die Eltern von Frau Zhang waren Parteikader. Und in Schanghai sei man gerade so durchgekommen mit den Rationierungsscheinen. Es habe keine Wahl gegeben. Nur Reis und Mehl. Damals habe er wie so viele diese aufgedunsene Haut gehabt. «Man konnte hineindrücken, und das Loch blieb», erinnert sich Herr Zhang. Als das Essen wieder kam, sei er fast gestorben. Er habe es nicht mehr vertragen. Wochenlang lag er im Krankenhaus, später päppelte ihn die Mutter mit dem wenigen Fleisch auf, das die Familie hatte. Er schneidet die zwei geschälten Gurken und zeigt mir, dass ich sie salzen muss, um sie für etwa zehn Minuten zu dehydrieren. «Mein Mann kann besser kochen als ich», kichert Frau Zhang.

Stolz zeigt er mir, wie man das Salat-Dressing zubereitet. Zwei Löffel Erdnussbutter, aus einer Schublade holt er duftende Szechuan-Pfefferkörner, Salz, einen Esslöffel Glutamat, einen Esslöffel milden Zhenjiang-Essig, ebenso viel Sesamöl. Wir hacken acht Knoblauchzehen, werfen sie ins Dressing. Es riecht nach Reis. Der Ehemann bindet sich eine Schürze um und dünstet Erbsen an. «Die kaufen wir saisonal! Genau wie die Aprikosensamen hier.» Karottenscheiben und Paprika kommen dazu, später Tofu.

Mittlerweile ist es fast unerträglich schwül in der Küche. Links dünstet das angebratene Schweinefleisch in einem Lauchsud. Es gibt Dongpo. Rechts brutzelt es in der grossen runden Pfanne. Hinten dampft der Reiskocher. Stolz zeigt Herr Zhang italienisches Olivenöl. Die Flasche ist ungeöffnet. «Wir mögen Kochen, Dünsten und Braten. Frittieren ist ungesund», sagt er. Der Preissticker zeigt beinahe den gleichen Preis wie in der Schweiz. Die beiden leben von monatlichen Renten rund um die 3000 ¥ (300 €). Dazu kommt Geld von der Tochter. Dennoch leistete sich die Familie letztes Jahr einen einmonatigen Europa-Trip.

Der nach der Entdeckung von unsauberen Machenschaften im Bio-Handel Journalist gewordene Hannes Grassegger ist fester Reporter bei Reportagen und spezialisiert sich auf Artikel zum Thema Wirtschaft.