Pilze sind Wildnis in Reinkultur – sie lassen sich nicht züchten. Für das Ökosystem Wald, ja für das Leben auf dem Festland überhaupt sind sie aber unentbehrlich. Eine Hommage an den Pilz.

Pilze sind ungewöhnliche Geschöpfe. In ihrer Sesshaftigkeit gleichen sie den Pflanzen, in ihrer Ernährungsweise den Tieren, in ihrer Allgegenwart den Bakterien. In Wahrheit gehören sie zu keiner dieser drei Gruppen, sondern bilden ein eigenes Reich.

Pilze sind unberechenbare Wesen. Der Boden ist voll von ihnen — und auch die Luft: Mit jedem Atemzug atmen wir bis zu zehn Pilzsporen ein. Doch auf dem Waldboden herrscht manchmal, zum Leidwesen des Sammlers, monatelang Ebbe. Dann wieder erscheinen die Pilze plötzlich über Nacht und in Scharen. Wachstumsprognosen sind unmöglich. Wärme, Regen, Sonnenflecken, Mondphasen: Jeder Pilzler schwört auf seine eigene Vorhersagemethode — und fällt doch regelmässig auf die Nase. Darum kommen auch erfahrene Sammler manchmal mit leerem Korb zurück.

«Pilzsucher sind die letzten Abenteurer der Menschheit»

Pilze sind unzähmbare Gesellen. Während der Mensch sonst längst alles, was auf Erden kreucht und fleucht, für seine Zwecke adaptiert hat, widersetzen sie sich hartnäckig jeglicher Domestizierung. Gewiss, es gibt die Zuchtchampignons, es gibt Austernpilze und Shiitake — aber bei den meisten anderen Arten sind Züchtungsversuche bisher kläglich gescheitert. Pilze lassen sich nicht bändigen. Wer Pilze will, muss in den Wald.

Deswegen bezeichnet sie Peter Handke in seinem «Versuch über den Pilznarren» auch als «letzte Wildnis»: Im Reich der Pilze sei «noch ein Zipfel Wildnis zu entdecken», den es woanders längst nicht mehr gebe, «weder in Alaska noch sonst wo», und womöglich seien die Pilzsucher deshalb «die letzten Abenteurer der Menschheit». Tatsächlich hat es etwas Urzeitliches, wenn sich gewöhnliche Beamte oder Bankangestellte nach Feierabend in eine Art Jäger mit Körbchen verwandeln, sich ohne Rücksicht auf Verluste durch Tännchen und Gestrüpp schlagen, sich hurtig verstecken, wenn ein Konkurrent auftaucht, und in Jubelschreie ausbrechen, wenn sie auf einen besonders stattlichen Steinpilz stossen. Vermutlich wird das Pilzesammeln seit Jahrtausenden, ja seit Jahrzehntausenden unverändert so betrieben. Wo sonst in unserer zivilisierten Welt können wir uns unseren Vorfahren noch so nahe fühlen?

Der eigentliche Pilz lebt unter der Erde

Dass Pilze nur in der Wildnis spriessen, hängt mit ihrer besonderen Lebensweise zusammen. Etwa ein Drittel unserer Waldpilze, rund 2000 Arten, sind auf eine enge Symbiose mit Bäumen angewiesen. Dazu gehören viele der beliebtesten Speisepilze, etwa Steinpilz und Eierschwamm, aber auch giftige Arten wie der Fliegenpilz und der Knollenblätterpilz. Für Pilze ist die Kooperation überlebenswichtig: Der Baum liefert ihnen den Zucker, den sie selber nicht herstellen können (darin ähneln sie den Tieren). Darum nützt es nichts, bei sich im Garten ein paar Pilzsporen zu verstreuen: Es wird nichts wachsen. Wenn schon, müsste man gleich ein Stück Wald nach Hause tragen.

Die Details der Zusammenarbeit zwischen Pilz und Baum sind hochinteressant. Was wir gemeinhin als Pilz bezeichnen, ist nur der Fruchtkörper, der dann und wann in die Höhe spriesst — der eigentliche Pilz lebt unter der Erde und bildet dort ein feines Fadengeflecht. Die Pilzfäden ummanteln oder durchdringen dabei die Wurzeln der Bäume — so kommen die beiden Lebewesen in Kontakt.

Symbiose bedeutet Geben und Nehmen. Der Pilz bekommt vom Baum sein Futter — und gibt sehr viel zurück. Zum Beispiel Nährstoffe wie Stickstoff oder Phosphor, die er mit seinen Fäden noch in kleinsten Mengen aufstöbern und aufnehmen kann. Desgleichen Wasser, was es dem Baum ermöglicht, an Orten zu wachsen, die ihm sonst zu trocken wären. Überdies produzieren manche Pilze Frostschutzmittel und Antibiotika, von denen dann auch die Bäume profitieren. So haben etwa Forscher der ETH Zürich kürzlich in einem Wurzelpilz der Rottanne ein Gift entdeckt, das für Fadenwürmer töd-lich ist. Der Pilz schützt damit nicht nur sich selber vor dem Parasiten, sondern auch den Baum.

Die Leibwächterfunktion geht aber noch weiter: Der Pilz hält dem Baum auch giftige Schwermetalle wie Blei, Cadmium oder Quecksilber vom Leibe. Ihm selber machen diese nicht abbaubaren Stoffe erstaunlicherweise nichts aus — er reichert sie in seinen Fruchtkörpern an, was ungesunde Folgen für den Sammler haben kann. Ein besonderes Problem sind die Maronenröhrlinge, die nach Tschernobyl bevorzugt radioaktives Cäsium speicherten. Vor allem im Tessin liegen die Cäsiumgehalte dieser Pilze (und auch der pilzliebenden Wildschweine) teilweise heute noch über dem Grenzwert.

Partnerschaft zwischen Baum und Pilz

Eine zweite, ebenso grosse Gruppe von Pilzen lebt nicht symbiotisch mit Bäumen, sondern ernährt sich von organischem Material: Sie zersetzen Blätter, Nadeln und totes Holz und erhalten so den Nährstoffkreislauf. Zuchtpilze wie die Champignons gehören zu diesem Typus, aber noch sehr viele andere: Auf einem einzigen Baumstamm hat man in Schweden 398 Pilzarten gefunden! Gleichzeitig schaffen die Pilze durch den Abbauprozess Lebensraum für unzählige spezialisierte Insekten und Kleintiere. Damit diese Vielfalt erhalten bleibt, braucht es genügend Totholz — ein Problem im traditionell überaufgeräumten Schweizer Wald. Immerhin hat sich der Totholzanteil pro Quadratkilometer Wald in den letzten Jahren verdoppelt. Er liegt aber immer noch fünfmal tiefer als in einem Naturwald.

Pilze können ohne den Wald nicht leben. Könnte aber der Wald ohne Pilze existieren? Klar ist: Pilze erbringen ungemein wichtige Ökosystem-Dienstleistungen. Gleichwohl ist ein Wald ohne Totholzpilze denkbar. In den frühesten Wäldern der Erde gab es diese Pilzgattung noch nicht — mit der Folge, dass sich manche Baumstämme nicht zersetzten, sondern zu Kohle wurden.

«Auf einem einzigen Baumstamm hat man in Schweden 398 Pilzarten gefunden.»Viel wichtiger für das Ökosystem sind offenbar die Wurzelpilze. Die Spezialisten der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) bezeichnen sie als «lebensnotwendig» für die Waldbäume. Es spricht für sich, dass sage und schreibe 80 Prozent der Pflanzen der Welt (und ausnahmslos alle Bäume der Schweiz) in Symbiose mit einem Pilz leben: Ohne Not würden sie diese Partnerschaft bestimmt nicht eingehen. Fossilienfunde belegen, dass diese Form der Kooperation seit Urzeiten existiert.

Womöglich machten die Pilze mit ihrer Fähigkeit, Nährstoffe anzuzapfen, die einst kargen Kontinente überhaupt erst bewohnbar. Dieser Meinung ist jedenfalls der grosse Biologe Edward O. Wilson. In seinem Buch «Der Wert der Vielfalt» schreibt er: «Ohne die Partnerschaft Pflanze-Pilz hätte die Besiedlung des Festlandes durch höhere Pflanzen und Tiere vor 450 bis 400 Millionen Jahren wahrscheinlich gar nicht stattgefunden.»