Die Wildnis begann gleich hinter der Fabrik.
Der Bach, der die Turbinen der Spinnerei antrieb, kam aus einer Schlucht —sie gehörte zur paradiesischen Welt meiner Kindheit. Oft streiften wir dem Bach entlang in die Schlucht, steile, bewaldete Hänge beidseits, Wurzelwerk, Nagelfluhklippen, Farn und Türkenbund. Wir sprangen von Stein zu Stein, fingen Forellen von Hand in den klaren Wasserbecken. Wo die Schlucht enger wurde, rauschte ein Wasserfall über die Felsbank, unter der sich eine Höhle gebildet hatte, die aussah wie ein riesiger Rachen. Tropfstein, Lehm und Schutt, fingerdicke Schichten von Kohle durchzogen bröckligen Mergel. Unheimlich düster war es unter dem Felsdach, es roch nach Moder und dem Kot der Dachse, die in Gängen im dunklen Grund der Höhle hausten. Es brauchte Mut, dorthin vorzudringen. Wir fanden Quarzsplitter, die wir für die Pfeilspitzen von Höhlenbewohnern hielten, Knochen, verkohltes Holz. Feuer machen, Tee kochen in einer Konservenbüchse mit Brennnesseln oder Spitzwegrich. Es gab Feinde in dieser Welt, streunende Hunde oder Burschen aus dem Nachbardorf, also mussten wir uns bewaffnen. Pfeilbogen aus Hasel- oder noch besser Eibenholz, Speere, Steinschleudern. Weiter oben am Bach gab es eine noch viel grössere Höhle, schmale Felsenwege führten hinauf, dann ging es über steile Hänge weiter empor, Klettern über Wurzelwerk, abrutschen, mit zerrissenen Hosen und zerkratzten Händen heimkehren.
Sehnsucht nach Abenteuern
Die Welt meiner Kindheit war eigentlich kein Paradies. Unsere Eltern arbeiteten Schicht in der Fabrik, meist waren wir uns selbst überlassen und unserer Fantasie, angeregt von den Büchern der Schulbibliothek: Robinson, Lederstrumpf, Ernie Heartings Wildwestbücher oder die Polarforscher. Nach der Lektüre des SJW-Hefts «Waldläufer und Trapperleben» gründeten wir einen Geheimbund, den Waldläufer-Club, bauten Baumhütten, liessen Rauchsignale steigen, rösteten Kartoffeln am Feuer. Wir wussten, wie man in der Wildnis lebt und überlebt. Ameisen statt Salz zum Würzen der Speisen, ein Hüftloch graben zum Schlafen auf dem nackten Boden, Spurenlesen und sich Büffelherden nur gegen den Wind nähern. Einmal fassten wir den Plan, abzuhauen, in die weiten Wälder des Tössstockgebiets, in die wahre, wirkliche Wildnis. Das Dorf war klein, unsere Sehnsucht nach Abenteuern gross.
Mit einem Freund stieg ich im tiefsten Winter auf einen Hügel beim Dorf, wir waren noch Erstklässler, hatten aber ein Ziel im Kopf. Eine geheimnisvolle Hütte, hoch oben über dem Wald. Wir wateten durch hüfttiefen Schnee, zwei Stunden vielleicht. Dann standen wir vor einem Wochenendhaus, Türen und Fenster waren verriegelt, kein Mensch zeigte sich. Wir begannen zu frieren und wussten plötzlich nicht mehr, was uns eigentlich da hinaufgetrieben hatte. Beim Abstieg begegneten wir sieben Rehen, die hintereinander im tiefen Schnee einen Hang überquerten. Ein Bild, das in meiner Erinnerung so klar erscheint wie kaum ein anderes aus meiner Kindheit. Die tiefe Stille und Ruhe der Natur, das Staunen über die Tiere, die keine Spur von Angst zeigten, uns offenbar als Wesen ihrer eigenen Welt betrachteten. Mit meinem Freund habe ich später wilde Berg- und Klettertouren in den Alpen unternommen. Es war eigentlich die Fortsetzung unseres kleinen Abenteuers als Erstklässler. Wir hatten gelernt, unsere eigenen Wege zu gehen, allen Widerständen und aller Angst zum Trotz.
Geschützt und geborgen im Wald
Ich war acht Jahre alt, als ich meine Mutter durch einen Verkehrsunfall verlor. Sie verunglückte mit dem Velo auf dem Weg zum Gottesdienst, der Vater war im Ausland. Meine Mutter, eine Bauerntochter aus dem Glarnerland, hatte einen engen Bezug zur Natur und zur Bergwelt gehabt. Zu den starken Kindheitserinnerungen gehören unsere Ausflüge in die Berge zum Sammeln von Heidelbeeren, unvergessen auch der Geruch und Geschmack des Löwenzahnhonigs, den sie kochte, oder das Gelee aus roten Holunderdolden, die ich gefunden und nach Hause ge-bracht hatte. Nach ihrem Tod streifte ich oft allein durch die Wälder um unser Dorf. Die Metapher «Mutter Natur» wurde für mich zur prägenden Kindheitserfahrung. In der Natur fand ich Trost für den Verlust der Mutter, im Wald fühlte ich mich geschützt und geborgen. Einmal baute ich während Wochen eine geheime Zwergenstadt aus Rinde, Ästen, Steinen und Moos — in einer plötzlichen Gefühlsregung zerstörte ich sie wieder.
Mit zunehmendem Alter unternahm ich allein und mit Freunden weite Wanderungen durchs Tössstockgebiet, dabei übernachteten wir auch in Höhlen oder in Ställen. Für eine Prüfung bei den Pfadfindern war ich während einer Vollmondnacht allein in den Wäldern unterwegs und erschrak anfangs vor jedem Knacken im Geäst, vor dem Ruf eines Käuzchens oder den Schatten von Bäumen, die sich im Wind bewegten. Doch mit der Zeit verlor ich die Angst, schritt mutig voran. Ich glaube, dass ich in jener Nacht viel von meiner Lebensangst verloren und Selbstbewusstsein gewonnen habe.
Dem «wirklichen Leben» näher
«Ich habe nie eine Gesellschaft gefunden, die so gesellig war wie die Einsamkeit», schrieb der amerikanische Lehrer, Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau (1817 — 1862), der sich 1845 in der Nähe von Boston für zwei Jahre in eine Blockhütte zurückzog und versuchte, von seiner Hände Arbeit, vom Fischfang und vom Anbau von Bohnen zu leben. Seine Erfahrungen und Gedanken, die er in der Einfachheit des einsamen Lebens entwickelt hatte, wurden durch sein Buch «Walden oder Leben in den Wäldern» weltweit bekannt. Es hat gesellschaftliche Bewegungen inspiriert, die nach alternativen, an der Natur orientier-ten Lebensformen suchten, bis hin zur 68er Generation. «Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit der Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte.»
Thoreau war auch ein überzeugter Pazifist, der seine Stimme gegen Krieg und Gewalt erhob und mit seinem Essay «Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat» unter anderen Mahatma Gandhi und Martin Luther King beeinflusste.
Vor ein paar Jahren wanderte ich um den Walden Pond, den kleinen Waldsee, an dem Thoreaus Blockhütte stand — heute ist sie rekonstruiert, eine Gedenkstätte, das Gebiet steht unter Naturschutz. Eine idyllische Gegend, nicht zu vergleichen mit den Schluchten meiner Kindheit. Thoreau überzeugte jedoch nicht durch gefährliche Expeditionen in die Wildnis, sondern durch seine literarische Ausdruckskraft, mit der er den Versuch, mit der Natur im Einklang zu leben, dargestellt hat. Es ist im Grunde ein biblisches Motiv; wie die Propheten, so findet der Mensch in der Ein-samkeit einer wilden Natur, in der Wüste, auf dem Meer oder einem Berg zu einem höheren Bewusstsein.
Das Fenster in die Ferne
Ich war im Sekundarschulalter, als das Fernsehen in unserem Dorf Einzug hielt. Noch konnte sich nicht jede Familie ein Gerät leisten, deshalb liess der Fabrikbesitzer in einem Raum einen Fernseher öffentlich zugänglich aufstellen. Fortan waren Schluchten, Bäche, Wälder und Höhlen nicht mehr attraktiv für die Dorfjugend, interessant waren nun die Fussballspiele oder was immer gesendet wurde. Ich habe das damals schon als Bruch mit einer Erlebniskultur empfunden. Vor die reale Welt schob sich eine Medienwelt, ein Fenster in die Ferne, von der wir stets geträumt hatten. Die Wildnis, Afrika, die grossen Städte, Weltraumraketen, Winnetou und die Schatzinsel: Alles war nun da und liess uns teilhaben an viel grösseren Abenteuern als dem Fischen von Hand — das ja ohnehin verboten war. Unsere Eltern waren wohl sogar erleichtert, sie wussten nun, wo wir steckten, und unsere Hosen blieben ganz.
Autor: Emil Zopfi, geboren 1943, studierte Elektrotechnik und arbeitete als Entwicklungsingenieur und Computerfachmann in der Industrie. 1977 erschien der Roman «Jede Minute kostet 33 Franken». Seither hat er mehrere Romane, Hörspiele und Kinderbücher verfasst sowie Presseartikel, Reportagen, Kurzgeschichten und Kolumnen. Er lebt als freischaffender Schriftsteller in Zürich und ist passionierter Bergsteiger und Sportkletterer. Für seine Werke wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet, unter anderem von Stadt und Kanton Zürich, der Kulturstiftung Landis & Gyr, der Schweizer Schillerstiftung, mit dem Kulturpreis des Schweizer Alpenclubs 1993, dem Kulturpreis des Kantons Glarus 2001 und dem King Albert Mountain Award 2010.