Die Wildnis ist ein rares Gut geworden. Ursprüngliche Teile der Natur, die sich dem Zugriff der Menschen entziehen, verschwinden. Die Zerstörung der Regenwälder geht weiter, die Arktis schmilzt dahin. Wo der Mensch es geschafft hat, ein Stückchen unberührte Natur zu erhalten, wuchert eher der Tourismus – so sanft er auch sei. Was selten ist, gewinnt an Wert, und in diesem Sinn hat die Wildnis wahrhaftig Karriere gemacht, seit unsere Urahnen nachts in Angst vor dem Säbelzahntiger um ein Feuer kauerten. Für sie hätte die Wildnis wahrscheinlich vor ihrer Höhle begonnen und sie hätten sie zum Teufel wünschen können, wenn dort nicht einfach eines gewesen wäre: die Welt, die Natur, von der sie ein Teil waren.

Das ist lange her. Mittlerweile ist die Wildnis so wertvoll, dass sie auch für eine bessere Welt steht. «Wild» ist zu einem Gütesiegel geworden für Rockstars — born to be wild — und Liebhaberinnen, für Einrichtungsstile und Gartenbauphilosophien. So hat sich die Wildnis eine Reihe von Verkleidungen zugelegt. Sie entfaltet sich, wenn Regeln ausgeschaltet sind, was unheimlich sexy anmutet in einer Welt, wo bald jedes Ding seinen Sensor, Chip, Sender hat und mit einer Datenbank kommuniziert. Auf diese wilde Freiheit kann man in der Stadt treffen, im Internet, in der Kunst, im Musikclub, im eigenen Garten. Dieses Heft will diese Vielfalt dokumentieren.

Das Wirken des Menschen hat aber nicht nur zu einem Schwinden der «eigentlichen» Wildnis geführt. Mit der Verwüstung entstanden auch neue Wüsten. Es gibt immer mehr Orte, an denen eine unkontrollierte Natur zurückkehrt, weil sie unbewohnbar geworden sind. Radioaktivität und chemische Verseuchung schaffen Reservate, für die der Mensch nicht mehr Eindringling ist, sondern Flüchtling. Sich dafür zu beglückwünschen, wäre freilich unsinnig und auch diese Orte bleiben nur so lange verschont, bis jemand auf eine neue «Goldader» stösst.

«Furcht und Ehrfurcht» steht — etwas beschwörend — auf unserer Titelseite. Das könnten wir noch steigern zu «Angst und Anziehung», je nachdem, ob wir uns wie Rotkäppchen oder wie Charles Darwin fühlen. Dass die Wildnis auf Frauen und Männer von heute anziehend wirkt, haben wir bereits gezeigt. Aber wo ist die Angst?

Angesichts der drohenden Klimaveränderungen würde es Greenpeace nicht schwer fallen, beängstigende Szenarien für die Zukunft heraufzubeschwören. Wir überlassen das Hollywood, das neuerdings ein Genre von Filmen pflegt, in denen die Helden im Überlebenskampf ein paar Reste von Menschlichkeit retten. Die heftigen Debatten rund um den Datenschutz im Internet spiegeln auch eine Sehnsucht nach Kontrolle über eine Welt, die im Chaos versinken könnte. Diese Wildnis weckt plötzlich neue Ängste.

Als ökologisch fühlende und denkende Menschen stehen wir vor einem Dilemma. Wir wünschen uns eine Welt, in der eine geordnete, massvolle Zivilisation und weite, unberührte Gebiete koexistieren. Wir möchten eine Grenze ziehen zwischen Mensch und Wildnis. Die Ecopop-Initiative ist ein Ausdruck dieser — verständlichen — Sehnsucht nach der Idylle. Ob Grenzen der Erde bisher viel Gutes gebracht haben, möchten wir zumindest hinterfragen.

Wenn wir die Wildnis verstehen wollen, stellt sich rasch auch die Frage nach der «Wildnis in uns». Dasselbe Leben steckt nämlich in jedem Wesen, ob Einzeller, Pilz, Pflanze, Tier oder Mensch. Statt die Welt einzuteilen in Menschliches und Nichtmenschliches, statt Grenzen zu ziehen, sollten wir uns auf dieses grosse Gemeinsame besinnen. Vielleicht verschwindet dann die Wildnis in unseren Köpfen und es bleibt — die Natur.