Für viele von uns ist der Alltag durch die Nähe zu Strassen geprägt. Die Ruhe und Stille, nach der wir uns alle sehnen, wird regelmässig durch den Lärm von leistungsstarken Motoren, Hupen und Sirenen von Rettungsfahrzeugen zerrissen. In unseren Lungen lagern sich die Gase und Feinstaubpartikel ab, die bei der Verbrennung von Treibstoffen entstehen. Zusätzlich kommen die in den Fahrzeugreifen enthaltenen Substanzen hinzu. Diese Umweltverschmutzung ist allerdings weniger dokumentiert und ihre Folgen sind weniger bekannt. Es ist jedoch klar belegt, dass der Reifenabrieb die Hauptquelle des Mikroplastiks ist, das hierzulande in die Umwelt gelangt. Alle Autos, unabhängig von ihrer Motorisierung, sind Teil des Problems.
Seit über sechs Millionen Jahren beginnt im Nordwesten der USA ein neuer Lebenskreislauf: Silberlachse schlüpfen in Flüssen aus den Eiern und verbringen hier ihr erstes Lebensjahr. Danach wandern sie in den Ozean, wo sie zu ausgewachsenen Tieren heranwachsen. Anschliessend steigen sie wieder in die Flüsse auf, um sich dort fortzupflanzen. Verschiedene Raubtiere wie Bären und Orcas sind auf diese Lachswanderung angewiesen, um sich zu ernähren.
Seit einigen Jahrzehnten jedoch sterben Silberlachse in der Region um Seattle in grosser Zahl, bevor sie flussaufwärts wandern und dort ihre Eier ablegen können. Der Lebenskreislauf ist unterbrochen und lange kann sich die Wissenschaft das Lachssterben nicht erklären. Im Jahr 2020 kommen Wissenschaftler:innen dem Geheimnis endlich auf die Spur. Eine Chemikalie, 6PPD-Chinon genannt, vergiftet die Fische und verursacht ihren Tod. Woher kommt das Gift? Von Autoreifen.
Wenn die Pneus von Autos und Lastwagen mit der Strasse in Berührung kommen, lösen sich kleinste Gummipartikel und verteilen sich in der Umwelt. Dieser Abrieb enthält all jene Stoffe, die bei der Herstellung von Reifen verwendet werden. Zwar handelt es sich dabei grösstenteils um synthetischen Kautschuk, doch teilweise besteht ein Reifen bis zur Hälfte aus Zusatzstoffen. So wird zum Beispiel Russ als Füllmaterial verwendet, synthetische Substanzen aus der Ölindustrie dienen als Weichmacher, weitere Zusatzstoffe schützen den Reifen vor einem frühzeitigen Verschleiss. Viele dieser Stoffe werden anschliessend in der Umwelt abgebaut. Diese Prozesse sind die Quelle für chemische Verbindungen, die für Menschen, Tiere und Pflanzen potenziell gefährlich sind.
Gifte aus dem Reifenabrieb
6PPD ist eine Substanz, die häufig bei der Herstellung von Reifen verwendet wird. Es schützt den Reifen vor Oxidation und verlängert so seine Lebensdauer. Wenn es in Kontakt mit Ozon kommt, entsteht das Nebenprodukt 6PPD-Chinon. Selbst in relativ geringen Konzentrationen hat die Substanz tödliche Folgen für Wassertiere.
In einer Studie konnte nachgewiesen werden, dass 6PPD-Chinon die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke bei menschlichen Zellen erhöht. Dadurch können neurotoxische Blutprodukte, Zellen und Krankheitserreger leichter in das Gehirn eindringen. Was wiederum neurodegenerative Prozesse auslösen kann. Entzündungen im Nervengewebe und eine veränderte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke werden mit ADHS, Depressionen und Schizophrenie in Verbindung gebracht. In einer Studie wurde bei Parkinson-Patienten eine doppelt so hohe Konzentration von 6PPD-Chinon in der Rücken-Hirnflüssigkeit festgestellt wie bei gesunden Menschen.
Auch Russ, ein Füllmaterial, das häufig in Reifen vorkommt, gelangt mit dem Abrieb in die Umwelt. Russ setzt polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) frei. Einige von ihnen können erwiesenermassen Krebs verursachen und als erbgutverändernd, fortpflanzungsschädigend und entwicklungsschädigend angesehen werden.
Reifenabrieb führt auch zu einer deutlich erhöhten Sterblichkeit der Lungenzellen, die ihm ausgesetzt sind, da er Entzündungen und DNA-Schäden verursacht.
Reifenabrieb überall
Bis zu 93 Prozent des Mikroplastiks, der in der Schweiz in die Umwelt gelangt, stammt aus Reifenabrieb. Zwischen 13’000 und 21’000 Tonnen dieser Feinstaubpartikel verteilen sich jedes Jahr auf den Strassen unseres Landes. Sie sind überall zu finden, auch auf unseren Gletschern und im Wasser von Bergseen. Das Problem ist unabhängig von der Motorisierung der Fahrzeuge. Elektroautos sind bei weitem nicht die Lösung für diese Verschmutzung – denn auch Elektroautos brauchen Pneus.
Der Grossteil des Reifenabriebs konzentriert sich in der Nähe von Strassen. Das Risiko ist gross, dass dort lebende Menschen Teile davon einatmen. Durch Regen, Schnee und Wind kann der Reifenabrieb auch über grosse Entfernungen verteilt werden. Die Partikel wurden auch auf landwirtschaftlich genutzten Flächen gefunden. Pflanzen, die auf kontaminiertem Boden wachsen, können die Schadstoffe aufnehmen. Insbesondere bei Blattgemüse wie Salat konnte nachgewiesen werden, dass es grössere Mengen an Giftstoffen aufzunehmen vermag. Die giftigen Substanzen gelangen so auch in unsere Nahrung.
Weniger Autos = weniger Abrieb
In diesem eher düsteren Bild gibt es auch eine gute Nachricht. Viele der in den Reifen enthaltenen Stoffe haben in der Natur eine kurze Halbwertszeit. Wenn also weniger Autos fahren und weniger Reifenabrieb generiert wird, kann die Belastung für Mensch und Umwelt schnell verringert werden. Dies ist ein Grund mehr, sich bei der Fortbewegung für eine sanfte Mobilität zu entscheiden und öffentliche Verkehrsmittel, Fusswege, Fahrräder, Elektrofahrräder, Trottinettes und Rollschuhe zu bevorzugen. Ist die Fahrt mit einem Auto oder einem Lastwagen nötig, sollte auf ein leichtes Fahrzeug zurückgegriffen werden, weil das Gewicht der Fahrzeuge die Menge des abgegebenen Abriebs beeinflusst.
Es ist höchste Zeit, unsere Verkehrspolitik grundlegend zu überdenken. Unsere Stimme und Engagement können einen entscheidenden Beitrag leisten, insbesondere bei der Abstimmung zum geplanten Ausbau der Autobahnen vom 24. November.
Am 24. November: NEIN zum masslosen Autobahn-Ausbau! Der Ausbau von Autobahnen und Nationalstrassen verschärft das Problem des Reifenabriebs, weil mehr Strassen zu mehr Verkehr führen. Damit erhöht sich auch die Menge an Reifenabrieb im Feinstaubcocktail, den wir täglich einatmen. Aus diesem und vielen anderen Gründen rufen wir dazu auf, am 24. November 2024 Nein zu stimmen zum Ausbau der Autobahn. |