Seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR im April 2024 zugunsten der KlimaSeniorinnen entschieden und die Schweiz wegen mangelndem Klimaschutz verurteilt hat, ist viel über das Urteil gesagt und geschrieben worden. Wir haben die gängigsten Argumente der Gegner:innen des Klima-Urteils unter die Lupe genommen. 

🤔 Behauptung 1:

Der EGMR hat mit seinem Urteil die Möglichkeit geschaffen, die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens einzuklagen. Das war aber nicht die Absicht der Vertragsparteien.

➡️ Das ist FALSCH ❌

WAHR: Der Gerichtshof stützte sein Urteil auf Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

🤓 Erklärung: Der EGMR stellte im KlimaSeniorinnen-Urteil fest, dass die Schweiz Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt hat. Dies ist die gesetzliche Grundlage für den Entscheid, und nicht das Pariser Übereinkommen. 

Die vom EGMR definierte menschenrechtlich begründete Schutzpflicht von Staaten besteht neben dem Pariser Übereinkommen. Das Pariser Übereinkommen hebelt die Menschenrechte nicht aus. Im Gegenteil: Die Präambel des Pariser Übereinkommens besagt: «…in der Erkenntnis, dass die Klimaänderungen die ganze Menschheit mit Sorge erfüllen, sollen die Vertragsparteien beim Vorgehen gegen Klimaänderungen ihre jeweiligen Verpflichtungen im Hinblick auf die Menschenrechte, (…) achten, fördern und berücksichtigen.»

🤔 Behauptung 2:

Der EGMR betreibt richterlichen Aktivismus.

➡️ Das ist FALSCH ❌

WAHR: Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ein «lebendiges Instrument», das sich weiterentwickelt und an veränderte gesellschaftliche und rechtliche Umstände anpasst. Die Richter:innen haben geurteilt, dass die EMRK auch bezüglich des Klimawandels gilt.

🤓 Erklärung: Der EGMR hat für sein Urteil die Urteile von Höchstgerichten anderer Länder wie Deutschland, Belgien, Frankreich und der Niederlande berücksichtigt, in denen es ebenfalls um den Schutz der Menschenrechte in Bezug auf den Klimawandel ging. Denn die EMRK wird als «lebendiges Instrument» betrachtet, das sich weiterentwickelt und an veränderte gesellschaftliche und rechtliche Umstände anpasst. Die Entscheidungen dieser Länder dienten dem EGMR als Referenzpunkte, um die neuen und komplexen Fragen rund um den Klimawandel und die damit verbundenen Menschenrechtsfragen zu beurteilen. 

Wer den Richter:innen des EGMR «richterlichen Aktivismus» vorwirft, möchte deren Unabhängigkeit beschneiden. Das ist brandgefährlich und ein krasser Angriff auf das Rechtsstaatsprinzip. Die Richter:innen des EGMR üben ihre Tätigkeit genauso wie die Bundesrichter:innen unabhängig und unparteilich aus und sind allein dem Recht verpflichtet. Die richterliche Unabhängigkeit ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, ebenso wie die Gewaltenteilung. In die Rechtsanwendung der Richter:innen des EGMR einzugreifen, ist mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar.

🤔 Behauptung 3:

Die Schweiz ist nicht verpflichtet, die Urteile des EGMR umzusetzen. Wenn die Schweiz das Urteil ignoriert, wird das keine Konsequenzen haben.

➡️ Das ist FALSCH ❌

WAHR: Die Schweiz hat sich dazu verpflichtet, Urteile des EGMR umzusetzen.

🤓 Erklärung: Das Urteil des EGMR ist verbindlich. Die Schweiz ist verpflichtet, die Urteile des EGMR zu befolgen, und das Ministerkomitee überwacht die Umsetzung der Urteile. Das ist in Artikel 46 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgehalten. 

Dass nationale Gesetze aufgrund von Entscheidungen des EGMR geändert werden (müssen), ist regelmässig der Fall und nichts Aussergewöhnliches. Daran ändert auch nichts, dass die Schweiz keine Verfassungsgerichtsbarkeit kennt oder Instrumente wie Initiative und Referendum verankert hat: Die Schweiz hat die EMRK ratifiziert und hat sich entsprechend an die EMRK und die Entscheide des EGMR zu halten. 

Der Bundesrat behauptet jetzt aber fälschlicherweise, das EGMR-Urteil im Fall der KlimaSeniorinnen Schweiz sei bereits umgesetzt. Damit greift er die Menschenrechte an. Die Menschenrechte sind universelle Rechte und gelten für uns alle. Mit seiner Verweigerung, den Klimaschutz in der Schweiz mit Blick auf die menschenrechtlichen Anforderungen des EGMR zu überprüfen und zu verstärken, setzt der Bundesrat die andauernden Menschenrechtsverletzungen fort. 

Das hat sehr wohl Konsequenzen. «Mit seiner Position sendet der Bundesrat ein gefährliches Signal an die Staaten des Europarats, dass die Urteile des Gerichtshofs unverbindlich sind und dass Klimaschutzmassnahmen à la carte getroffen werden können. Diese Haltung schwächt die Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Menschenrechte in Europa», sagt Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz. «Mit seiner Reaktion auf den EGMR-Entscheid zu den KlimaSeniorinnen schwächt der Bundesrat den EGMR und damit die Menschenrechte und die Demokratie», schreibt Operation Libero

🤔 Behauptung 4:

Mit seinem Urteil verletzt der EGMR den Grundsatz der Gewaltenteilung und mischt sich in die Schweizer Klimapolitik ein.

➡️ Das ist FALSCH ❌

WAHR: Der EGMR kann nicht in die Schweizer Gesetzgebung eingreifen und hat dies mit dem KlimaSeniorinnen-Urteil auch nicht getan.

🤓 Erklärung: Der EGMR hat festgestellt, dass die Klimaziele, die sich die Schweiz gesetzt hat und die Klimaschutzmassnahmen, die sie bisher ergriffen hat, nicht ausreichen, um den Schutz der betroffenen Menschenrechte zu gewährleisten. Der EGMR hat sich damit auf seine Aufgabe beschränkt, die ihm in der EMRK gegeben wurde.

Es liegt an den Schweizer Behörden, sprich, am Bundesrat und am Parlament, sich die nötigen Ziele zu setzen und die Massnahmen zu treffen, mit denen die Schweiz einen ausreichenden Beitrag zur Begrenzung des Klimawandels leisten kann. Es liegt an ihnen, die festgestellte Menschenrechtsverletzung zu beheben. Soweit Änderungen des Bundesrechts erforderlich sind, kann es zu einer Abstimmung kommen – und muss das Stimmvolk entscheiden. In der Schweiz machen damit auch nach dem Urteil immer noch Parlament und Volk die Klimapolitik. 

🤔 Behauptung 5:

Dass ein Gerichtsurteil die Klimapolitik bestimmt, ist undemokratisch. Das Urteil ist ein Angriff auf die direkte Demokratie.

➡️ Das ist FALSCH ❌

WAHR: Die Möglichkeit, unzureichende Ziele und Massnahmen der Schweiz gerichtlich anzufechten, ist Teil des demokratischen Rechtsrahmens der Schweiz, wie in allen Mitgliedstaaten des Europarats.

🤓 Erklärung: Die aktuelle Klimapolitik der Schweiz ist nicht das Endergebnis einer demokratischen Willensbildung. Der EGMR hat in seinem Urteil auch nicht festgelegt, wie die Schweizer Klimapolitik aussehen soll, sondern lediglich festgestellt, dass die bisherigen Bemühungen der Schweiz nicht ausreichen, um ihren notwendigen Beitrag zur Begrenzung des Klimawandels in einer Weise zu leisten, die den Menschenrechten gerecht wird. 

Auch demokratische Verfahren dürfen nicht dazu führen, dass im Ergebnis Menschenrechte verletzt werden. In solchen Fällen ist es gerade die Aufgabe des EGMR, aber auch der innerstaatlichen Gerichte, solche Verletzungen festzustellen. Die Demokratie leidet darunter nicht, sie erhält vielmehr einen wichtigen Impuls, die Einhaltung der Menschenrechte sicherzustellen.

Lieber Bundesrat, respektiere das EGMR-Urteil!

Der Bundesrat sieht keine Notwendigkeit, dem Klima-Urteil des EGMR Folge zu leisten und hält an seiner Klimastrategie fest.

Beteilige dich