Die Mehrheiten im Ständerat und im Nationalrat unterstützen eine Erklärung zum KlimaSeniorinnen-Urteil, die besagt, dass die Schweiz genügend tut beim Klimaschutz. Das ist grundfalsch. Die Diskussion im Parlament ist ein Tiefpunkt. 

Vor rund zwei Monaten hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sein historisches Urteil im Fall der KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz bekannt gegeben: Der EGMR hat festgestellt, dass Staaten in der Pflicht stehen, ihre Bürger:innen vor den schwerwiegenden Folgen der Klimakrise zu schützen. Der EGMR formulierte gar Anforderungen, die eine Klimastrategie eines Staates erfüllen muss, damit die Menschenrechte geschützt werden. Dabei hielt der EGMR unmissverständlich fest: Jeder Staat ist in der Verantwortung, mit der Klimapolitik seinen Teil dazu beizutragen, dass die globale Erwärmung auf maximal 1,5°C begrenzt wird.

Dieses Urteil ist historisch. Dieses Urteil ist ein Sieg für uns alle, für alle Generationen. Dieses Urteil ist ein Meilenstein im Kampf für ein lebenswertes Klima für alle. Die Schweiz könnte dieses Urteil nutzen, um die Grabenkämpfe in der Klimapolitik zu überwinden, um mehrheitsfähige Lösungen zu finden. Denn es geht um die Menschenrechte, um die Rechte von uns allen. Menschenrechte sind unabhängig von politischen Mehrheiten. Menschenrechte sind die Basis jeder Demokratie. 

Rechtskommission startete Grossangriff auf EGMR 

Doch nichts dergleichen geschieht. Im Gegenteil. Was in den vergangenen zwei Monaten in der Schweiz abgegangen ist, ist ein Armutszeugnis. Es ist erschreckend und macht Angst. 

Bereits wenige Stunden nach der Bekanntgabe des Urteils nannte die SVP dieses «lächerlich». «Völlig unverständlich» war es für die FDP. Vertreter:innen der SVP – und gar der Mitte – fordern, die Mitgliedschaft der Schweiz in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu kündigen. 

Wenig später hatte die Rechtskommission des Ständerats ihren grossen Auftritt, als sie den Antrag für eine Erklärung zum Urteil stellte. Darin heisst es, «dass die Schweiz daher keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 09. April 2024 weitere Folge zu geben, da durch die bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils erfüllt sind». Die Annahme der gleichlautenden Erklärung empfahl ein paar Tage darauf auch die Rechtskommission des Nationalrats. 

Der Ständerat war seiner Rechtskommission bereits letzte Woche gefolgt, der Nationalrat tat es ihm heute Vormittag gleich. Damit lehnt das Schweizer Parlament das Urteil des EGMR ab. Damit wird das Urteil ignoriert.

Das ist ein Tiefpunkt. 

Die Erklärung ist eines Rechtsstaates nicht würdig. Die Erklärung ist ein beispielloser Angriff gegen den EGMR. Die vornehmlich bürgerlichen Parlamentarier:innen haben es mit ihrer Polemik geschafft, den EGMR zu diskreditieren. Von diesem gestreuten Misstrauen profitieren vor allem Populisten, autoritäre Politiker:innen und Autokraten. Geschwächt aber werden die Menschenrechte und damit die Menschen in den 46 Mitgliedstaaten der Menschenrechtskonvention. 

Klimawandel wird nicht als Realität anerkannt 

Die Erklärung ist ein Verrat an all jenen, die heute und in Zukunft unter den realen Folgen der Klimaerwärmung leiden. Die Erklärung ist ein Versuch, den menschenrechtlich gebotenen Klimaschutz weiterhin aus politischen Motiven zu verhindern, statt anzuerkennen, dass der Klimawandel eine wissenschaftliche Realität ist, die alle betrifft. 

Zu behaupten, dass mit den bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils schon erfüllt seien, entbehrt jeder Grundlage. Es ist grundfalsch. Genau mit dieser Argumentation ist die Schweiz beim EGMR nicht durchgedrungen. 

Der EGMR hat die Klimastrategie der Schweiz nach sorgfältiger Prüfung als menschenrechtsverletzend eingestuft. Jeder Staat muss seinen Teil dazu beitragen, dass die globale Erwärmung auf maximal 1,5°C begrenzt wird. Ein Staat darf sich seiner Verantwortung nicht dadurch entziehen, dass er auf die Verantwortung anderer Staaten verweist. Trittbrettfahren ist nicht erlaubt. Die Schweiz ist alles andere als auf Kurs – im Gegenteil: Würden alle so handeln wie die Schweiz, würde sich die Erde um bis zu 3°C erwärmen. 

Jetzt muss der Bundesrat liefern 

Der Bundesrat will sich nach der Sommerpause mit dem Urteil befassen. Wir erwarten vom Bundesrat, dass er die Institutionen und den Rechtsstaat konsequent schützt und der Erklärung des Parlaments keine Folge leistet. 

Wir lassen uns nicht entmutigen. Wir werden uns vehement für eine korrekte Umsetzung des Urteils einsetzen. Wir sind nicht alleine. In weniger als zwei Wochen haben über 22’000 Menschen unsere Petition unterschrieben und gefordert, dass das Urteil des EGMR zu respektieren ist und die Menschenrechtskonvention zu schützen sind. 

Wir werden weiterhin darauf hinweisen, dass die Schweizer Klimapolitik unzureichend ist. 

Wir sind überzeugt, dass wir eine Mehrheit der Bevölkerung für mehr Klimaschutz gewinnen können. Das zeigt nicht zuletzt die deutliche Zustimmung zum Klimaschutzgesetz und zum Stromgesetz. 

Die Klimastrategie der Schweiz verletzt die Menschenrechte.