Auf den ersten Blick wirkt es wenig aufregend. Dabei zählt es zu den produktivsten Lebensräumen der Erde – und könnte eine entscheidende Rolle bei der Gesundung der Meere und Küstenräume spielen. Doch dem Seegras geht es schlecht. Forschende aus Deutschland versuchen, die Unterwasserwiesen in der Ostsee wieder anzupflanzen und so Beständen auf der ganzen Welt zu helfen.

Wenn Maike Paul und Philipp Schubert an die Arbeit gehen, helfen sie nicht nur den Meeren, sondern auch dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. Der nämlich verpflichtet sich im aktuellen Koalitionsvertrag zu einer Naturschutzmaßnahme, die es vorher noch nie in ein deutsches Regierungsprogramm schaffte: «Die natürliche CO2-Speicherfähigkeit der Meere werden wir durch ein gezieltes Aufbauprogramm verbessern (Seegras-Wiesen, Algen-Wälder)», heißt es dort. An einem dieser Aufbauprogramme arbeiten die Küstenforscherin Maike Paul und der Meeresbiologe Philipp Schubert.

«Es ist schön, dass die Politik die immense Bedeutung von Seegras für den Klimaschutz erkannt hat. Doch dieser Satz im Koalitionsvertrag allein reicht nicht aus», sagt Schubert, Doktorand am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und einer der führenden Seegrasexperten Deutschlands. Der 47-Jährige steht am Steuerrad der Mola Mola. An einem kühlen, sonnigen Morgen im April führt er das Boot, das er gemeinsam mit seinen Kolleg:innen für Tauch- und Forschungseinsätze nutzt, vom Olympiahafen Schilksee hinaus in die Kieler Förde. Nach gut zehn Minuten drosselt er den Motor. Eigentlich müsste man hier das Seegras sehen. Die Ostsee ist an dieser Stelle nur drei, vier Meter tief. Doch der Blick über die Bordwand zeigt nur eine milchige, grüngraue Wasseroberfläche. Warum Schubert das Seegras nicht sieht, dazu später mehr.

Direkt unter dem Bootsrumpf wächst eine Seegraswiese etwa so groß wie 140 Fußballfelder. Der Meeresbiologe geht ans Heck der Mola Mola und lässt behutsam eine Spezialkamera ins Wasser. Ein langes Kabel verbindet sie mit einem Monitor im Steuerhaus. Dann gibt Schubert vorsichtig Gas und das Boot schiebt sich behäbig durch die Förde. Links neben sich sieht er die Übertragung der Kamerabilder: hellgrüne, gut 30 Zentimeter lange Grashalme, die sanft von links nach rechts wiegen. Das Wasser ist trüb vom umhertreibenden Plankton. Alle paar Meter wechselt die Szenerie zwischen dichtem Bewuchs und karger Unterwasserwüste. Für Schubert kein Grund zur Sorge: «Über den Winter verliert diese Seegrasart fast alle Halme. Sobald der Frühling beginnt, fängt sie wieder an zu wachsen.» Diese Wiese sei gesund, resümiert er zufrieden und sagt: «Davon bräuchten wir in Deutschland – und weltweit – viel, viel mehr.»

Raubfische wie Aale und Schollen finden in Seegraswiesen einen Großteil ihrer Nahrung. © Benjamin Jones

Gräser mit Superkräften

Seegraswiesen zählen zu den produktivsten Lebensräumen, die es auf der Erde gibt. Bis zu 100 Tierarten leben in diesem Unterwasserhabitat in der sonst so artenarmen Ostsee. Sie dienen Seenadeln, Dorschen und zahllosen anderen Fischen als Fortpflanzungs- und Laichgebiet, als Aufzuchtsort für den Nachwuchs. Raubfische wie Aale und Schollen finden hier einen Großteil ihrer Nahrung, andere suchen Zuflucht. Außerdem schützt Seegras die Küsten, weil die Wurzeln Erosion minimieren und Halme die Kraft der Wellen um bis zu 40 Prozent senken. Es filtert Bakterien aus dem Wasser, zieht Nährstoffe an und speichert Kohlenstoff in Halmen und Wurzeln.

Forschende wie Schubert und Paul wissen seit Jahren um die Superkräfte dieser unscheinbaren Pflanze. Doch außerhalb der Wissenschaft wurde ihre heilsame Wirkung für den Planeten lange unterschätzt. Auch deshalb ist Seegras weitaus weniger erforscht als vergleichbare marine Ökosysteme wie Korallenriffe oder Mangrovenwälder. Dabei wächst die Pflanze in 159 Ländern und an fast allen Küsten der Erde. Sie bedeckt etwa 0,1 Prozent des Meeresbodens und alle Seegraswiesen weltweit sind mit 317’000 Quadratkilometern fast so groß wie Deutschland. Mindestens 65 Arten wurden bislang klassifiziert. Die genaue Zahl ist umstritten. Zostera marina, die Art, die gerade an Schuberts Kamera vorbeifliegt, ist die am weitesten verbreitete. Sie existiert auf der gesamten Nordhalbkugel, wächst nicht nur vor Kiel, sondern auch vor Island, Japan und Alaska. Vor Algerien, Spanien und Mexiko.

Doch das Seegras ist in Not. Jedes Jahr schrumpfen die weltweiten Bestände um etwa sieben Prozent. Allein in Europa gingen zwischen 1869 und 2016 fast 36’000 Hektar verloren. Eine Fläche halb so groß wie Hamburg. Zwar erholen sich einige Wiesen von allein, das aber ist die Ausnahme.

Seegräser weltweit kämpfen ums Überleben. © Caleb Kastein

Einer der Hauptgründe für den Verlust des Seegrases: die Überdüngung in der Landwirtschaft. Auf den Feldern werden zu viele Nährstoffe ausgebracht, die durch Regen und Abwässer in die Flüsse und letztlich die Ozeane gelangen. Dort befeuern Kalium, Phosphor und Stickstoff die Algenblüte, sodass dem Seegras das Licht für die lebenswichtige Fotosynthese genommen wird. «Als mein Vater in den Fünfzigerjahren als Kind in Friedrichsort nördlich von Kiel auf der Kaimauer stand, sah er, wie in elf Metern Wassertiefe die Aale durch das Seegras schwammen», sagt Schubert, während er die Kamera wieder aus dem trüben Wasser holt. Heute sei das in der Ostsee undenkbar. Selten wächst Zostera marina tiefer als sechs oder sieben Meter. Die Art braucht mindestens zehn Prozent des Tageslichts, sonst verkümmert sie. Dort, wo das Seegras noch wächst, zerstört oft die Fischerei die Wiesen. Noch dazu lassen steigende Wassertemperaturen – Stichwort Klimawandel – die Gräser absterben.

Komplizierte Renaturierung

Vom küstenfernen Hannover aus kümmert sich Maike Paul darum, dass in der schleswig-holsteinischen Ostsee in Zukunft wieder mehr Seegraswiesen gedeihen. Die 44-jährige Geoökologin der Leibniz Universität Hannover leitet das Projekt «SeaStore». An dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt sind sechs Institutionen aus ganz Deutschland beteiligt, unter anderem das Geomar sowie das Institut für Weltwirtschaft in Kiel, die Universität Greifswald und die Technische Universität Braunschweig. «Wir wollen Methoden entwickeln, wie sich bestehende Seegraswiesen in der südlichen Ostsee möglichst effizient schützen und neue wieder ansiedeln lassen», sagt Paul.

Insbesondere die Renaturierung von Seegraswiesen ist kompliziert. Man könnte sogar sagen: Sie gleicht einem Glücksspiel. Erste Versuche, Zostera marina in Deutschland wieder anzupflanzen, gab es bereits in den 1950er-Jahren. Sie blieben ohne Erfolg. Auch weltweit sind die Anwuchsraten und der langfristige Erhalt neuer Wiesen unterdurchschnittlich. Die meisten verkümmern spätestens nach einigen Jahren. Woran das liegt, weiß niemand genau. Seegras scheint sehr wählerisch.

Paul und ihr Team haben bislang Glück. Allen drei Wiesen, die sie 2021 und 2022 neu gesetzt haben, geht es gut. Einerseits lag das wohl an der guten Standortwahl. Sowohl in der Kieler Förde als auch der Schleimündung bei Maasholm und in der Geltinger Bucht gab es früher Seegraswiesen. Ein wichtiges Indiz, ob die Anwuchs-Chancen für neue Setzlinge besonders hoch sind. Um diese Standorte zu identifizieren und generell eine Vorstellung vom Seegrasbestand zu bekommen, hat Schubert mit seinen Kolleg:innen die gesamte Ostseeküste zwischen Flensburg und Travemünde kartiert. Über 800 Kilometer Meeresboden filmten sie mit ihrer Schleppkamera. Die Auswertung der Daten zeigte ihnen nicht nur, wo derzeit Seegras wächst. Modellierungen lassen auch erahnen, wo es potenziell Wiesen geben könnte, derzeit aber keine wachsen.

Seegraswiesen zu züchten ist gar nicht so einfach. © Benjamin Jones

Aussaat im Meer oder an Land

Ein zweiter Grund für den Erfolg der neuen Unterwasserwiesen in der Ostsee: die Pflanzmethode. Momentan kennt die Wissenschaft drei verschiedene. Theoretisch reicht es, die Samen ins Meer zu werfen. Die Strömung treibt sie fort und mit etwas Glück keimen sie im Meeresboden. Die Anwuchsraten aber liegen bei unter zehn Prozent. Das bedeutet auch: Um auf diese Art erfolgreich eine Wiese anzusiedeln, braucht es Millionen Samen. Renaturierungsprojekte in den Niederlanden und den USA arbeiten auf diese Weise.

Alternativ können die Samen an Land in einem Wasserbecken auf einem Raster eingepflanzt werden. Sobald die Keime ausgetrieben sind, setzt man das Gitter auf den Meeresgrund und hofft, dass die Pflanzen dort weiterwachsen. Das Project Seagrass in Wales geht so vor. In der Theorie lassen sich damit sehr schnell große Flächen bepflanzen. Doch auch hier sind die Erfolgschancen bislang mäßig.

Wissenschaftler:innen der Universität Hannover entwickeln derzeit Anwuchshilfen. Matten, aus denen halmähnliche Strukturen herausragen, sollen die Wasserbewegung dämpfen und einen beruhigten Bereich kreieren, in dem die ausgesäten Samen besser keimen und anschließend die Wurzeln der gepflanzten Sprossen nach der Umsetzung besser im Sediment haften. Mit Tests in 3D-Wellen-Strömungsbecken wird die Wirksamkeit unter Realbedingungen erprobt. Noch ist die Entwicklungsphase nicht abgeschlossen. Paul und ihr Team suchen nach einem nachhaltigen Material für die künstlichen Seegrashalme: «Plastik wollen wir auf keinen Fall in die Meere setzen.»

Die dritte Methode – sie wird von Paul und Schubert angewandt – ist mit Abstand die aufwendigste und teuerste. Wie Unterwassergärtner:innen haben Schubert und seine drei Kolleg:innen vom Taucherkollektiv Submaris mit einer kleinen Handschaufel mehr als 36’000 Seegraspflanzen in den Ostseeboden gedrückt. Spross für Spross. Seegras für Seegras. Auf einer Fläche von 3000 Quadratmetern. Winzig im Vergleich zur Größe bestehender Wiesen. Noch dazu mussten die Setzlinge für die Pflanzung zunächst aus einer gesunden Spenderwiese entnommen, an Bord des Bootes sortiert und dann möglichst schnell am Zielort wieder eingesetzt werden. Doch der Erfolg gibt ihnen Recht. «Über 90 Prozent der Pflanzen sind angewachsen. Deswegen haben wir diesen aufwendigen Weg gewählt», sagt Schubert. Erstaunlich ist auch wie wenig Pflanzen nötig sind, um eine neue Wiese zu bilden. Eine gesunde Wiese zählt zwischen 400 und 1000 Pflanzen pro Quadratmeter. Wird ein neues Habitat in einem Schachbrettmuster angelegt, reicht es, jeden zweiten Quadratmeter mit lediglich acht Pflanzen zu bestücken. Schon nach wenigen Jahren hat sich das Seegras ganz von allein auch in den vormals leeren Zwischenräumen angesiedelt.

Der Materialeinsatz also ist gering, der Aufwand enorm. Derzeit testet das Team, ob sich die Methode über Citizen-Science-Projekte mit engagierten und speziell geschulten Taucher:innen aus Vereinen oder Naturschutzorganisationen skalieren lässt.

Verschiedene Pflanzmethoden machen Hoffnung. © Oleksandr Sushko

Heimat für Garnelen und Co.

Von der Pflanzung abgesehen, geht es auch darum, die Entwicklung der transplantierten Wiesen zu dokumentieren. Dafür ist ein Teil der Pflanzen nummeriert. Beobachtungen zeigen, dass sich schon nach wenigen Wochen neues Leben in den Habitaten ansiedelt, etwa Seenadeln, Grundeln oder Garnelen, die vorher nirgends auf den Sandflächen gesichtet wurden. Studien legen allerdings nahe, dass neue Wiesen erst nach gut zwölf Jahren vollends dieselben Ökosystemdienstleistungen erbringen können wie bereits bestehende.

Dass ein langfristiger Erhalt möglich ist, zeigt ein Blick in die Geschichte. «Seegraswiesen gibt es in der Ostsee mindestens seit der letzten Eiszeit. Die älteste nachgewiesene Wiese steht vor der finnischen Küste und ist über 1000 Jahre alt», sagt Schubert. Er sitzt an Deck der Mola Mola, die er gerade an ihrem Liegeplatz im Hafen festgemacht hat. Die Unterwasserkamera ist verstaut, der Motor ausgeschaltet und zwei große Fender, so heißen die robusten, luftgefüllten Gummikörper, schützen die silberne Aluhülle des Bootes vor Beschädigungen durch die Kaimauer.

Um die Seegrasbestände zu fördern und die Wissenslücken zu schließen, ist beim reinen Anpflanzen längst nicht Schluss. Der SeaStore-Forschungsverbund nutzt Licht- und Strömungssensoren in den neu angelegten Wiesen, um wichtige Daten über die Umweltbedingungen und ihre Veränderungen an den jeweiligen Standorten zu bekommen. Analysen zum Mikrobiom von Seegras sollen Aufschluss darüber geben, inwiefern sich die Mikroorganismen neuer Wiesen von denen alter Wiesen unterscheiden und über die Zeit angleichen. Durch die Ansiedlung von Miesmuscheln – sie filtern Schwebstoffe aus dem Wasser, verringern dessen Trübungsgrad und erleichtern die Fotosynthese – prüfen die Wissenschaftler:innen, ob sich die Gesundheit der Seegraswiesen weiter verbessern lässt.

Seegraswiesen sind Heimat und bieten Schutz für Gross und Klein. © Benjamin Jones

Es braucht auch die Politik

Trotz der intensiven Forschung wissen Paul, Schubert und ihre Kolleg:innen noch immer verhältnismäßig wenig über diese so allgegenwärtige Pflanze. Der Austausch mit ähnlichen Projekten, etwa an der University of Southern Denmark in Odense, der Universität Göteborg in Schweden oder dem Project Seagrass in Großbritannien, soll weitere Erkenntnisse bringen und aus dem vermeintlichen Glücksspiel der Renaturierung ein kalkuliertes Vorgehen machen.

Schubert will derweil bald die nächste Kartierung starten und prüfen, ob sich die Bestände erholen oder weiter schrumpfen. Dafür wird er wieder wochenlang mit der Mola Mola und der Schleppkamera im Schneckentempo die schleswig-holsteinische Küste entlang tuckern. Unterstützung bekommt er dabei womöglich von ganz oben. Ein Münchner Unternehmen verspricht, dass es die Wiesen per Satellit dokumentieren kann. Spezielle Kameras sollen dafür bis zu zehn Meter unter die Wasseroberfläche sehen. Bislang galt die Luft-Wasser-Grenze als unüberwindbare Barriere für genaue bildgebende Verfahren. «Ich habe erste Modellrechnungen gesehen und bin wirklich überrascht. Das könnte uns tatsächlich helfen», sagt Schubert.

Hilfe bräuchten er, Paul und ihr Team allerdings auch von der Politik. Ohne strengere Regeln – oder gar Verbote – für die Landwirtschaft und Fischerei wird es schwierig, die Seegraswiesen langfristig effektiv zu schützen. Dann hätten nicht nur Schubert und Paul ihr Ziel verfehlt, sondern auch der Bundeskanzler.


Diese und weitere Geschichten über den Schutz von Ostsee, Nordsee und Nordatlantik gibt es in Florian Sturms Buch «Ein Leben für den Ozean. 10 Geschichten von den Helden der Meere». Zu finden unter ein-leben-fuer-den-ozean.de.