Wie Brasiliens Landlose zur größten sozialen Bewegung Lateinamerikas wurden und heute mit Bio-Lebensmitteln erfolgreich sind.
Der Blick über das Land von Sirley Gil ist malerisch. «Wir haben Frieden», sagt sie. «Endlich!» Die 54-Jährige hat mit ihrem Mann ein Haus auf einem Hügel gebaut. Von hier oben schaut man auf einen Fischteich, auf dem Enten und Gänse schwimmen. Auf dem gegenüberliegenden Hang erstreckt sich ein Gemüsegarten, in dem Kohl, Karotten, Rote Beete und Spinat wachsen. Etwas abseits grasen ein paar Kühe. Die Szenerie ist eingefasst von dunklem atlantischen Regenwald, der hier in den Bergen bei dem Ort Piraí rund zwei Stunden von Rio de Janeiro entfernt einst alles bedeckte.
23 Hektar Land besitzen Sirley Gil und ihr Mann. Auf weiteren abgelegenen Parzellen pflanzen sie Bananen, Limonen, Bohnen, Süßkartoffeln und Maniok. Die Gils zählen zu Brasiliens mehr als fünf Millionen Kleinbauern und -bäuerinnen, die im Gegensatz zur mächtigen Agrarindustrie, die mit ihren gigantischen Flächen vor allem für den Export produziert, Lebensmittel für die Brasilianer:innen anbauen.
Für Sirley Gil und ihren Mann, der heute in der Stadt zu tun hat, ist mit dem eigenen Hof ein Traum in Erfüllung gegangen. «Vor rund 15 Jahren besaßen wir keinen Quadratmeter Land», sagt sie. «Wir waren Landlose.» Sie zählten zu den Hunderttausenden Brasilianer:innen, die gerne landwirtschaftlich tätig wären, aber keinen Boden haben.
Brasiliens Landlosenbewegung
Wie viele andere Landlose lebten die Gils an der Peripherie einer Stadt und in ländlichen Armensiedlungen. Sie hielten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, arbeiteten als Tagelöhner:innen. Es schien unmöglich zu sein, ein Stück Land zu ergattern, obwohl Brasilien, das 206 Mal so groß ist wie die Schweiz, enorm viele fruchtbare Flächen besitzt. Schließlich schlossen sie sich der Bewegung der Landarbeiter:innen ohne Boden (Movimento dos Sem Terra, MST) an. «Ohne die MST würde ich wahrscheinlich in einer winzigen Sozialwohnung in der Stadt leben», sagt Sirley Gil. «Ich hätte einen Haufen Enkel, Bluthochdruck und Depressionen.»
Die MST, in der Landlose gemeinsam um ein Stück Scholle streiten, veränderte nicht nur das Leben von Sirley Gil. Rund eine halbe Million Familien haben durch die Organisation in den vergangenen Jahrzehnten Land erhalten. «Land bedeutet nicht nur Arbeit und gesunde Nahrung, sondern auch Würde, Teilhabe und Gemeinschaft», sagt Sirley Gil. Die Bewegung entstand 1984 noch während der Militärdiktatur, um für eine Landreform zu kämpfen. Hervorgegangen aus verschiedenen Bauernbewegungen, liegen ihre ideologischen Wurzeln in der katholischen Befreiungstheologie und dem Marxismus. Heute ist die MST die größte soziale Bewegung Lateinamerikas.
In mehr als 2000 Agrargemeinschaften und Kooperativen bauen MST-Bauern und -Bäuerinnen vorrangig Bio-Lebensmittel an. So ist die Landlosenbewegung heute beispielsweise die größte Produzentin von Bio-Reis in Lateinamerika. Auch Sirley Gil ist stolz darauf, dass sie auf ihrem Hof keine Pestizide oder künstliche Dünger einsetzt, «bei uns sind Hof und Natur im Gleichgewicht», sagt sie. «Aber wir könnten uns auch keinen Kunstdünger leisten», schränkt sie ein. Der Verkauf ihrer Agrarerzeugnisse über die Kooperative bringt ihr pro Monat nur umgerechnet rund 350 Euro ein. Andererseits muss sie kaum Lebensmittel kaufen, weil sie Gemüse, Salat, Kartoffeln, Früchte, Milch und Eier selbst produziert. Mietkosten hat sie keine. Sie sagt, dass sie noch nie so glücklich, gesund und stolz gewesen sei.
Es mag auch mit dem Erfolg der MST zu tun haben, dass sie von Brasiliens Großbauernschaft und den Anhängern des ultrarechten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro regelrecht gehasst und bekämpft wird. Er versprach im Wahlkampf mit der MST «Schluss zu machen». Derzeit tagt in Brasilia ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss, der von bolsonaristischen Abgeordneten durchgesetzt wurde, die nachweisen wollen, dass die MST eine «kriminelle Organisation» sei, die den ländlichen Raum «terrorisiere».
Ungleichgewicht in der Bodenverteilung
Bei der Frage der Bodenverteilung prallen in Brasilien zwei Weltanschauungen aufeinander. Fast nirgends auf der Welt ist der fruchtbare Boden so ungerecht verteilt wie hier. Die Konzentration des Landes in den Händen weniger ist ein Erbe der Kolonialzeit, als die Portugies:innen riesige Flächen unter sich aufteilten. Im 20. Jahrhundert vergaben verschiedene Regierungen Land, das oft Indigenen gehörte, an europäischstämmige Siedler:innen und Unternehmen. Es tauchten Landräuber auf, die sich mittels Korruption öffentlichen Grund aneigneten. Heute sind Flächen von der Größe der Niederlande in den Händen von Privatleuten und Konzernen, während Hunderttausende Brasilianer:innen nichts haben. Eine Studie belegte 2020 das Ungleichgewicht: Zweidrittel von Brasiliens Agrarfläche gehören nur rund zehn Prozent der Agrarwirte, während sich 90 Prozent der Bauernschaft das restliche Drittel teilen muss.
Ein Mittel zur Durchsetzung ihrer Forderungen ist für die MST die Besetzung von Ländereien, die als «unproduktiv» gelten, die also brach liegen und ihre in der Verfassung vorgeschriebene «soziale Funktion» nicht erfüllen. Brasiliens Gesetz eröffnet die Möglichkeit zur Enteignung dieser Ländereien und ihrer Überführung in das Institut für Agrarreform (Incra). Aber in der Praxis passiert dies selten. Eine Agrarreform kommt seit Jahrzehnten nicht voran, weil die mächtige Agrarindustrie sich dagegen stemmt. Zahlreiche Abgeordnete und Landesgouverneure sind selbst Großgrundbesitzer oder werden von der Industrie bezahlt. In ihren Kreisen ist es üblich, von MST-Mitgliedern als «vagabundos» zu sprechen, Faulenzern und Verbrecherinnen.
Auch vor Gewalt schrecken einzelne Agrarwirt:innen nicht zurück. Tausende Kleinbauernführer:innen wurden in Brasilien in den vergangenen Jahrzehnten ermordet. 1996 erschossen Polizisten 19 Landlose im Bundesstaat Pará. Es war das größte Massaker an MST-Mitgliedern. Obwohl die Situation sich gebessert hat, werden bis heute Landlosen-Sprecher:innen bedroht und leben in Angst. Ex-Präsident Jair Bolsonaro liberalisierte den Waffenbesitz auch mit dem Argument, dass Großbauern- und bäuerinnen sich besser verteidigen können sollten.
Für eine gerechtere Gesellschaft
Die MST-Siedlung von Sirley Gil heißt Paz na Terra (Frieden auf Erden) und ist die Heimat von 32 Familien, die sich insgesamt 400 Hektar teilen. Damit ist sie eine relativ kleine Siedlung, in den größten leben rund 2000 Familien. Das hügelige Land, durch das ein paar Staubstraßen führen, gehörte einst einem Großgrundbesitzer, der wegen Sklavenarbeit verurteilt und enteignet wurde. Das Incra verteilte es an die Bauern und Bäuerinnen der Landlosenbewegung, die ein Protestcamp errichtet hatten.
«Durch unsere Besetzungen üben wir Druck aus, damit etwas geschieht», sagt Celso Alves. Der 54-Jährige lebt mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen in der benachbarten Landlosen-Siedlung Roseli Nunes, benannt nach einer 1987 ermordeten MST-Führerin. Alves stammt aus Brasiliens Süden, wo viele Bauern und Bäuerinnen von der Soja- und Zuckerindustrie verdrängt wurden. Er schloss sich 1993 der Bewegung an. Heute baut er auf seinem Hof Gemüse, Früchte und Wurzelgemüse an, hält Schweine und Hühner.
Alves ist einer der MST-Koordinator:innen in der Region und hat eine Art Ausbildung durchlaufen. «Es geht in der Bewegung nicht nur ums Land», sagt er. «Sondern darum, politisches Bewusstsein zu schaffen.» Sie organisiert regelmäßig Jugendcamps, es gibt politische Schulungen und Kurse, etwa in ökologischer Landwirtschaft oder Verwaltung. Alves reiste schon zum Austausch mit Partnerorganisationen nach Mosambik und Guatemala. «Ohne Bildung bleibst du ein Sklave der Verhältnisse», sagt er. Weil in MST-Camps auch die Internationale gesungen und eine klassenkämpferische Rhetorik gepflegt wird, wirft die Rechte ihr oft vor, einen kommunistischen Umsturz anzustreben. «Wir wollen keine Diktatur», sagt Alves, «sondern eine gerechtere und damit demokratischere Gesellschaft.»
Die Siedlung Roseli Nunes ist mehr als 1000 Hektar groß, aber 700 davon sind ein Waldschutzgebiet und werden nicht angetastet. Das Land gehörte früher einem Industrieunternehmen, das es nicht nutzte. Deswegen wurde es von Alves und anderen MST-Mitgliedern besetzt. Nach Klagen der Firma wurden sie mehrfach von der Polizei vertrieben, bis das Incra 2006 einer Enteignung zustimmte. «Die Verteilung des Landes folgt genauen Kriterien», erklärt Alves. Eine Familie, deren Land näher an der nächsten Stadt liege, bekomme weniger Fläche als eine mit schlechterem Marktzugang. Auch die Bodenqualität spiele eine Rolle. «Es soll gerecht zugehen», sagt er. Die Bauern und Bäuerinnen können sich dann entscheiden, der MST-Kooperative beizutreten und ihre Produkte gemeinschaftlich zu vermarkten, Maschinen und Treibstoff zu teilen, aber es ist nicht obligatorisch. «Viele arbeiten lieber für sich alleine, es steht jedem frei», sagt Alves.
Jeden Samstag bringt er seine Produkte zum MST-Gemeinschaftshaus mit dem großen Ché-Guevara-Konterfei an der Wand, von wo ein VW-Bus sie auf Märkte oder in die Geschäfte ausliefert, die die Bewegung mittlerweile in vielen Städten unterhält. Auch übers Internet lassen sich saisonale Lebensmittel bei den Landlosen bestellen. Während der Corona-Pandemie spendeten sie Tonnen davon an Bedürftige. Es ist eine Praxis, die die Bewegung auch beibehält, wenn Menschen nach Naturkatastrophen schnelle Hilfe benötigen.
Als der MST-Untersuchungsausschuss in Brasilia kürzlich mit Pedro Stedile ein Gründungsmitglied vorlud, versuchten rechte Abgeordnete ihm nachzuweisen, dass er eine kriminelle Organisation anführe, die illegal Ländereien besetze. «Wenn ihr wirklich wollt, dass die MST verschwindet, macht eine Agrarreform», sagte er. Und wies auf einen der großen Widersprüche Brasiliens hin. «Warum gibt es so viele Arme auf dem Land, während die Agrarindustrie immer reicher wird?»
Philipp Lichterbeck, Jahrgang 1972, lebt seit 2012 in Rio de Janeiro. Der freie Korrespondent und Reporter berichtet für deutsche, schweizerische und österreichische Medien über Brasilien und den Rest Lateinamerikas. 2013 erschien sein Buch «Das verlorene Paradies. Eine Reise durch Haiti und die Dominikanische Republik».
Ian Cheibub (geb. 1999) ist ein visueller Geschichtenerzähler, der in Rio de Janeiro lebt und an der Universidade Federal Fluminense studierte. Er arbeitet als Fotograf für Reuters und berichtet für andere Medien über Geschichten in Brasilien. In seiner Arbeit versucht er zu verstehen, welche Mechanismen die Menschen aus dem Globalen Süden entwickeln, um zu überleben.
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