Trotz Demonstrationen, Sitzblockaden und einbetonierten Händen geht es der Erde immer schlechter. Müssen wir zivilen Ungehorsam zur Pflicht erklären – oder schadet Aktivismus mehr, als er nützt? Ein Doppelinterview mit unserer Geschäftsleiterin Iris Menn und Francis Cheneval, Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich.

Francis Cheneval, Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich. © Jörn Kaspuhl

Herr Cheneval, Klimakleber:innen begehen «zivilen Ungehorsam». Was ist «ungehorsam» daran, wenn das Überleben des Planeten gefährdet ist?

Aktivist:innen des zivilen Ungehorsams sind ungehorsam gegenüber Gesetzen. Sie beziehen sich auf höherstehende Werte, wie sie in der Verfassung festge­schrieben oder vorausgesetzt sind – etwa auf unsere Verpflichtung gegenüber den kommenden Generationen.

Wer sich auf die Verfassung beruft, darf also Gesetze brechen?

Entscheidend ist, dass der Ungehorsam weder auf privaten Motiven basiert noch zu persönlichen Vorteilen führt; er muss immer uneigennützig bleiben. Bei Themen wie der Klimastabilität geht es um ein öffentliches Interesse, das zu keinen rein persönlichen Vorteilen führt. Da kann man sich auf die Verfassung berufen. Entspre­chend hat der Staat in Sachen Klima mei­ner Meinung nach ganz klar eine Schutz­pflicht.

Ist ziviler Ungehorsam angesichts des Zustands des Planeten nicht geradezu eine Bürger:innenpflicht?

Da geraten wir auf dünnes Eis. Von einer Pflicht würde ich nicht sprechen, aber ein moralisches Recht auf zivilen Ungehor­sam lässt sich begründen.

Ein Zürcher Richter darf keine Fälle von Klima-Aktivist:innen mehr beurteilen, seit er verkündet hat, er wolle alle ungestraft davonkommen lassen. Er gilt nun als befangen. Ihr Kommentar?

Richter sollen unterscheiden zwischen Menschen, die ein Gesetz zum eigenen Vorteil brechen, und Menschen, die mit­tels Gesetzesübertretungen ein überge­ordnetes Ziel verfolgen. Die Bestrafung des zivilen Ungehorsams soll erfolgen, aber mild. Fällt sie ganz weg, geht die Signalwirkung und in einigen Fällen auch die Uneigennützigkeit verloren.

Wie viel Provokation braucht es, um ein übergeordnetes Ziel – wie die Klimastabilität – zu erreichen? Beispiel Klimakleber:innen.

Ich plädiere für den Mittelweg. Wird der Verkehr ab und zu blockiert, so betrifft das im Moment nur eine Minderheit. Also kommt es darauf an, wie die nicht direkt betroffene Mehrheit reagiert. Auf welche Seite schlägt sie sich und aus welchen Gründen? Das ist die entscheidende Frage, um die positive Wirkung des zivilen Ungehorsams abzuschätzen.

Sie selbst sind kein Freund der Provokation?

Nein.


Iris Menn, Meeresbiologin und Geschäftsleiterin von Greenpeace Schweiz. © Jörn Kaspuhl

Frau Menn, was war Ihre mutigste Aktion?

Ich sprang vor den Bug von Tiefsee­ Fischtrawlern und versuchte sie zu stoppen.

Respekt! Diese Trawler kennen ja nix.

Ja. Die fahren einfach weiter …

Was hat Ihr Engagement gebracht? Den Meeren – und dem Planeten insgesamt – geht es immer schlechter.

Die Proteste von Greenpeace zeigen durchaus Wirkung. Wir konnten die Zer­störung unserer Umwelt in verschiedenen Bereichen bremsen oder gar stoppen. Da gibt es viele konkrete Beispiele. Ich er­innere etwa an das Walfangverbot, den Schutz der Antarktis oder das Rodungs­verbot im kanadischen Great Bear Rainfo­rest. Dank uns ist einer der letzten grossen Regenwälder nun zumindest teilweise geschützt.

Ganz generell: Sollen, können oder müssen wir zivilen Ungehorsam leisten?

Ich bin von der Bedeutung des zivilen Ungehorsams tief überzeugt. Es ist wich­tig, sich zu empören, aufzubegehren und die Stimme zu erheben, wo Unrecht an Mensch und Natur geschieht. Es gibt so viele Formen, die eigene Empörung aus­zudrücken, jede und jeder findet da eine Möglichkeit. Gemeinsam können wir den Lauf der Dinge ändern.

Müssten wir uns nicht noch mehr wehren, um den Turnaround zu schaffen? So provokativ wie die Tomatensuppen-Schmeisser:innen?

Um die Verantwortlichen zum Handeln zu bringen, braucht es alte und neue Formen des zivilen Ungehorsams. Eine davon hat uns Greta Thunberg gezeigt. Eine einzel­ne Frau, die sich der Schulpflicht wider­setzt und damit eine Klimabewegung erzeugt. Entscheidend ist, dass der Wi­derstand stets gewaltfrei bleibt – so wie es uns Mahatma Gandhi und Martin Luther King vorgemacht haben.

Teilen Sie die Ansicht, dass ziviler Ungehorsam eine der besten Möglichkeiten ist, um eine Demokratie weiterzuentwickeln?

Auf jeden Fall. Ziviler Ungehorsam dehnt den Rahmen des gesellschaftlichen Den­kens aus und ermöglicht damit neue Wege. Das zeigt das Beispiel der Afro­amerikanerin Rosa Parks. 1955 setzte sie sich im Bus bewusst auf einen Platz, der weissen Menschen vorbehalten war. Sie wurde verhaftet, leitete damit in den USA aber das Ende der Rassentrennung ein. Sie erhielt dafür eine Medaille – allerdings erst gut vierzig Jahre später.


Autor: Christian Schmidt, Journalist, Texter für Non-Profit-Organisationen und Buchautor. Freischaffend aus Überzeugung. Diverse Auszeichnungen, u. a. Zürcher Journalistenpreis.

Weitere spannende Inhalte zum Thema Aktivismus findest du in dieser Ausgabe des Greenpeace-Magazins.