Sage und schreibe Dreiviertel aller fliegenden Insekten sind in den letzten gut zwei Jahrzehnten verschwunden. Das ist das schockierende Resultat einer trinationalen Felduntersuchung in Deutschland.

Viele Jahre warnen wir davor, dass die industrielle Landwirtschaft die Artenvielfalt dramatisch reduziert. Pestizide und Monokulturen vertreiben bzw. vernichten Vögel, Amphibien und – nicht nur Bienen – Insekten. Letztere sind das Fundament eines gesunden Ökosystems und die Grundlage einer vielfältigen Lebensmittelproduktion. Insekten sind nicht nur nützlich: Die Foto-Reportage des indonesischen Fotografen Yudi Saw auf Blick online verändert unsere Sichtweise auf diese wunderschönen, farbenprächtigen Kleinsttiere.

Massives Insektensterben festgestellt

Nun lässt eine Studie, die erste dieser Art, aufhorchen: Holländische, deutsche und britische Wissenschaftler haben 27 Jahre lang in 63 deutschen Naturschutzgebieten fliegende Insekten in speziellen Fallen gefangen und gewogen. In der Fachzeitschrift «PLOS One» konnten sie ihre Resultate jetzt veröffentlichen. Diese sind alarmierend: Seit 1989 ist die Masse der fliegenden Insekten um durchschnittlich 76 Prozent zurückgegangen. «Mitten im Sommer, wenn viele Insekten ihren Höhepunkt erreichen, war sogar ein Rückgang von 82 Prozent in den untersuchten Gebieten zu verzeichnen», schreiben die Autoren.

Das ist ein lange erwarteter, eindrücklicher wissenschaftlicher Beleg dafür, wie dramatisch, wie grossflächig das Insektensterben ist. Da Schwankungen bei Insekten von einem Jahr zum anderen normal sind, braucht es solche Langzeitbeobachtungen, um die Entwicklung ihrer Populationen sicher nachweisen zu können.

Schweiz kaum besser als das Ausland

«Der sehr umfangreiche Datensatz ist sorgfältig ausgewertet», sagt Lukas Pfiffner vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl) in Frick AG im Tages-Anzeiger. «Ein Rückgang der Biomasse fliegender Insekten in diesen Grössenordnungen war nicht zu erwarten.» Erstaunlich sei auch, dass der Effekt unabhängig von den Lebensraumtypen war. «In der Schweiz müssen wir mit ähnlichen Entwicklungen rechnen.» Die hiesige Landwirtschaft verbraucht im Schnitt nicht weniger Pestizide als andere europäische Länder. Man darf sich fragen: Wenn sogar in den Naturschutzgebieten die Insekten so stark abnehmen, wie wird es in den Agrargebieten erst aussehen?

Wollen wir nur noch Getreide essen?

Insekten wie Bienen, Käfer, Motten, Fliegen und Wespen sind die wichtigsten Pflanzenbestäuber. Sie regulieren Schädlinge und dienen zahlreichen Arten als Futter. Weniger Insekten bedeutet deshalb massiv weniger Lebensmittel, weniger Fische, Frösche, Eidechsen, Vögel und Säugetiere. Ausgerechnet die nahrhaftesten und interessantesten Kulturpflanzen, darunter das meiste Obst und Gemüse, wären von einem anhaltenden Sterben der Bestäubungsinsekten besonders stark betroffen. Wären wir in unserer Ernährung ausschliesslich auf Pflanzen angewiesen, die nicht von der Bestäubung durch Insekten abhängen, würden uns fast nur noch Getreideprodukte bleiben. Dies wäre zwar kein Problem für eine ausreichende Versorgung mit Kalorien, aber wir würden Probleme bekommen, genügend Vitamine, Mineralien und Spurenelemente zu uns zu nehmen. Mangelernährung wäre die Folge.

Die meisten natürlichen Lebensmittel entstehen nur durch Insekten-Bestäubung.

 

Andere, bessere Rezepte gefragt

Das Insektensterben ist wohl ein mannigfaltiges Geschehen. Die Wissenschaftler sind aber überzeugt, dass Monokulturen und Pestizide dabei eine gewichtige Rolle spielen. Das verwundert nicht. Beide Rezepturen stammen aus der gleichen Küche: von Agrochemiekonzernen wie Syngenta, Monsanto und Bayer, die diese Zusammenhänge ständig leugnen, unabhängige Forschung diffamieren und mit gekauften Studien kontern. Die industrielle Landwirtschaft ist eine Artenvernichtungslandwirtschaft. Das muss sich ändern, zumal die guten und gesunden Rezepte längst auf dem Tisch liegen: biologische Landwirtschaft, wie sie der Weltagrarrat als Lösung vorschlägt, oder Verfahren wie Smart Breeding. Die Behörden müssen die Bevölkerung und die Tierwelt vor den Agrochemiebomben schützen. Aber auch die Landwirtinnen und Landwirte sind gefragt, ihre Böden nach biologischen Kriterien zu bewirtschaften und so zu mehr Vielfalt beizutragen.